Der Väter Fluch
Kopfschütteln.
»Also bleiben wir noch ein Weilchen hier sitzen?«
Diesmal nickte er. Eine der Kellnerinnen war eine junge Latina namens Yolanda. Sie bot Rina etwas zu essen an.
»Nur eine Tasse Tee, bitte«, antwortete Rina. »Möchten Sie Tee, Oscar?«
»Tee ist gut.«
»Zwei Tee, bitte.«
»Oscar mag seinen mit Honig«, sagte Yolanda. »Wie ist es mit Ihnen?«
»Für mich auch, bitte.«
»Bin sofort zurück.«
»Lassen Sie sich Zeit«, erwiderte Rina.
Oscar griff nach dem Teller und fuhr mit dem Finger über die Innenseite des Randes, wobei ein wenig Suppenrest an der Fingerspitze hängen blieb. Gierig leckte er sie ab. Rina seufzte, nahm den Teller und stand auf. »Das ist lächerlich.«
»Wohin gehst du?«, fragte Oscar aufgeregt.
Wie ein Kind, das etwas falsch gemacht hatte. »Ich hole Ihnen noch etwas Suppe.«
Sie marschierte in die Küche. Nach zehnminütigem Verhandeln kam sie mit einem halb vollen Teller zurück. »Das sind ja Tyrannen da drin.«
Oscar nickte. »Siehst du, was wir uns hier gefallen lassen müssen?«
Es hörte sich an wie: »Diest du, waf wir und hier defallen lassn müssn?«
»Andererseits können sie auch nicht alle alles essen lassen«, sagte Rina.
»Warum nicht?«
»Hier sind eine Menge Leute auf strenger Diät.«
»Das ist nicht mein Problem.«
»Aber das Problem von jemand anderem«, erwiderte Rina.
»Von jemand anderem schon... aber nicht meins.« Oscar schlürfte den letzten Rest des halben Tellers. »Jetzt hab ich genug. Vielen Dank.«
»Gern geschehen.«
»Und du bist eine Freundin von Georgia?«
»Ich kenne Georgia, das stimmt.«
»Bist du auch so neugierig wie sie?«
»Einspruch - weder Georgie noch ich sind neugierig... nur interessiert.«
»Naaah. Du bist vorbeigekommen, um mich auszufragen. Glaubst du wirklich, du kannst einen alten Mann mit Suppe bestechen?«
»Ich habe Vertrauen in meine Kochkünste. Meine Mutter ist eine ausgezeichnete Köchin.«
»Also lebt deine Mutter noch?«
»Beide Eltern sind noch am Leben. Meine Mutter ist siebenundsiebzig, mein Vater zweiundachtzig.«
»Junge Hüpfer.«
»Das werde ich ihnen erzählen.«
»Woher kommen sie?« '
»Meine Mutter wurde in Deutschland geboren, mein Vater stammt aus Ungarn.« Rina schwieg einen Moment. »Eigentlich ist meine Mutter viel mehr Ungarin als Deutsche. Sie ist nach Budapest gekommen, als sie zehn war. Ihre Mutter starb noch vor dem Krieg bei einem tragischen Unfall. Sie spricht nicht gern darüber.«
»Kann ich ihr nicht verdenken.«
»Ich auch nicht«, sagte Rina. »Und trotzdem ist es schade. Sie weiß so viel über die Geschichte unserer Familie, aber sie will es nicht weitergeben. Es wird für immer verloren sein.«
»Manche Dinge bleiben besser für immer verloren«, bemerkte Oscar.
»Anscheinend.« Aber Rinas Gesichtsausdruck strafte ihre Worte Lügen.
»Warum ist die Vergangenheit so wichtig?«, fragte Oscar mürrisch. »Wir lernen aus der Vergangenheit? Wir haben noch nie aus der Vergangenheit gelernt.«
»Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt.«
»An guten Tagen, wenn meine Augen noch etwas erkennen können, lese ich die Zeitung. Und danach frage ich mich, warum ich das getan hab. Das Morden nimmt kein Ende.«
»Stimmt.«
»Die Vergangenheit... pffff!« Er winkte mit knochigen Fingern ab. »Nichts! Nur leerer Raum!«
»So denkt auch meine Mutter. Aber manchmal glaube ich, dass sie an ihr nagt. Wenn sie ihr ins Gesicht sehen würde...«
»Naaah. Sie sieht ihr ins Gesicht. Ich weiß es. Sie kommt zurück, in Albträumen. Schreckliche, schreckliche Träume. Träume, über die man nicht sprechen kann, Träume, die man nicht psychoanalysieren kann, Träume, die sich nicht mit Schlafmitteln unterdrücken lassen. Träume, die einen auf ewig verfolgen. Es ist schon schrecklich genug, dass es im Schlaf wiederkehrt. Warum soll ich auch noch darüber nachdenken, wenn ich wach bin?«
Im Stillen gestand Rina sich ein, dass er gute Argumente hatte. Dann sagte sie: »Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, Oscar, aber wenn meine Mutter am Tag darüber sprechen würde, würden die Albträume in der Nacht vielleicht verschwinden.«
»Nein. Du irrst dich. Dann denkt sie am Tag darüber nach und hat Albträume in der Nacht.« Oscar atmete schwer. »In welchen Lagern sind sie gewesen?«
Die Frage kam so beiläufig und nüchtern, als ob er sich nach ihren Geburtsorten erkundigt hätte.
»Auschwitz. Mein Vater war auf der jüdischen Seite, aber meine jüdische Mutter war
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