Der Vampir, den ich liebte
einem
Geschirrtuch ab. »Aber dein Vater und ich denken beide, dass Lucius genug Mühe
hat, sich an das Leben in den Vereinigten Staaten zu gewöhnen, auch ohne dass
wir ihm noch zusätzliche Pflichten im Haushalt zuteilen.«
»Er hat
sich ganz gut an das Leben hier gewöhnt. Zu gut, wenn du mich fragst.«
»Du
solltest Lucius' Großspurigkeit nicht für ein Zeichen dafür halten, dass er
glücklich ist«, sagte Mom. »Sein Leben hat sich dramatisch verändert. Wir
sollten ihn nicht auch noch dazu zwingen, zusätzliche Arbeiten zu verrichten,
die in seiner Heimat von Dienern verrichtet würden.«
»Was er
behauptet.«
Mom lachte.
»Ungeachtet dessen, was du über Lucius' ... ähm Vampirdasein denkst ...«
»Ich denke,
es ist ein Haufen Scheiß ...« Ich holte tief Luft. »Ich meine, Müll.«
»Wie auch
immer, Lucius kommt jedenfalls tatsächlich aus einer sehr wohlhabenden,
privilegierten Familie.«
Ich fischte
im Seifenwasser nach versunkenem Besteck. »Wie privilegiert? Meinst du das
ernst? Stimmt es wirklich, wenn er über Polopferde und Reisen nach Wien redet?«
»Oh ja, das
stimmt, Jessica«, antwortete Mom. »Die Vladescus leben auf einem ziemlich
beeindruckenden Anwesen. Genauer gesagt, einer Burg. Hoch oben in den Karpaten.«
»Eine
Burg?« Niemand lebte in Burgen, außer in Disney-filmen. »Und hast du diese
›Burg‹ gesehen?«
»Nur von
außen, was imposant genug war«, entgegnete Mom. »Wir durften das Anwesen selbst
nicht betreten. Die Vladescus waren damals nicht gerade die zugänglichsten
Vampire ...« Es schien, als wolle sie noch etwas sagen, aber dann änderte sie
ihre Meinung. »Die Dragomirs waren offener.«
Wir kamen
einem Gespräch über meine leiblichen Eltern zu nahe. »Wie hat sie ausgesehen?
Die Burg?«
Mom
lächelte. »Ich glaube, das ist das erste Mal, dass dich etwas, das mit Lucius
zu tun hat, wirklich interessiert.«
Ich spülte
einige Messer ab. »Nur sein Haus.«
Mom warf
sich das Geschirrtuch über die Schulter und lehnte sich an die Theke. »Lucius
nicht? Nicht einmal ein klitzekleines bisschen?«
Ich
erkannte den subtilen Unterton in ihrer Stimme. »Mom! Nein.«
»Jessica
... Lucius ist ein attraktiver junger Mann und er ist ganz offensichtlich an
dir interessiert. Es wäre nur natürlich, wenn du dich auch ein wenig für
ihn interessieren würdest. Das wäre jedenfalls nichts, wofür du dich schämen
müsstest.«
Ich tauchte
eine Auflaufform ins Wasser und schrubbte ein paar Linsen weg, die beim Backen
an den Seiten festgeklebt waren. »Er hält sich für einen Vampir, Mom.«
»Das ändert
nichts an der Tatsache, dass Lucius Vladescu ein charmanter, mächtiger,
wohlhabender, gut aussehender Junge ist.«
Ich
erinnerte mich an das Gefühl von Lucius' Hand auf meiner Wange an dem Abend, an
dem wir uns kennengelernt hatten. Das Flattern in meiner Magengrube. Seine
Ankündigung, irgendwann werde er mir in den Hals beißen. »Ganz ehrlich: Hast
du jemals gesehen, dass ich Lucius mit etwas anderem als Abscheu angesehen
habe?«
Mom
lächelte. »Du wärst überrascht, wie häufig sich Abscheu in Verlangen
verwandelt.« In ihren Augen stand ein wissender Ausdruck. Als hätte sie meine
Gedanken gelesen, als ich mich daran erinnert hatte, wie Lucius mein Gesicht
berührte.
Ich wurde
rot. »Das klingt nach Alchemie. Die ungefähr so real ist wie Vampire.«
»Oh,
Jessica.« Mom seufzte. »Was ist Liebe denn anderes als eine Form von Alchemie?
Es gibt Kräfte in diesem Universum, die wir einfach nicht erklären können.«
Ja. Kräfte
wie die die Zeit verzerrende Schwerkraft eines schwarzen Lochs. Und die
Ziffernfolge der Zahl Pi, die sich endlos durchs Universum zieht. Das
waren wahre Kräfte und Realitäten. Geheimnisvoll, sicher. Aber auch
messbar und vielleicht verständlich, wenn wir die Methoden der Mathematik und
Physik anwandten. Warum konnten meine Eltern das nicht begreifen? Warum
mussten sie überall da Magie und Übernatürliches vermuten, wo ich lediglich
Zahlen und Elemente sah?
»Ich mag
Lucius ganz einfach nicht, Mom, also kannst du Alchemie, Abscheu und vor allem
Verlangen vergessen«, widersprach ich, während ich die Auflaufform ausspülte.
Meine
Mutter schien das nicht restlos zu überzeugen. »Na ja, sollten deine Gefühle
sich ändern, kannst du jedenfalls immer mit mir reden. Ich habe den Eindruck,
dass Lucius ein sehr erfahrener junger Mann ist. Ich möchte nicht, dass du
dich Hals über Kopf ...«
»Steckt
Jessica ›Hals über Kopf‹ irgendwo
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