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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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was in Montana geschehen war, demütig werden lassen und ihm die Seagram-Besessenheit aus dem Kopf vertrieben.
    Und doch verfolgten mich seine Worte.
    Ich bin der Schattensohn.
    Wenn man diese Seiten las, kam man kaum umhin festzustellen, dass Dannys Realitätswahrnehmung einen Bruch erlitten hatte. Sah sich mein Sohn tatsächlich als ein Geist, der seine eigene Familie verfolgte? Oder handelte es sich nur um ein Symptom einer Art Depression?
    Ich ging ins Bad und spritzte mir Wasser ins Gesicht, sorgfältig darauf bedacht, mir nicht in die Augen zu sehen. Ich hatte gewusst, dass Danny während seiner Reise gleichsam verwahrlost war, körperlich, geistig und emotional, trotzdem tat es weh, diese Worte zu lesen. Warum hatte er nicht angerufen? Warum hatte er nicht um Hilfe gebeten? Und warum hatte ich, sein Vater, nicht im tiefsten Winkel meines Herzens gespürt, dass er Hilfe brauchte?
    Ich hielt es nicht länger aus in meinem Hotelzimmer, und da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, zog ich mich um, steckte mir das Schild mit meinem Namen an die Brusttasche meines Jacketts und ging nach unten, um an der Cocktailparty zur Eröffnung der Konferenz teilzunehmen. Ich musste unter Leute, mit denen ich über das Wetter reden konnte. Ich musste mich erden.
    Formell gekleidete Männer hielten Champagnerflöten in der Hand und tauschten mit Frauen in stilvollen Kostümen Nichtigkeiten aus. Ihre Stimmen verschwammen zu einem unverständlichen Summen, das hin und wieder von einem Lachen durchbrochen wurde.
    Murray hatte Recht. Das Tagebuch enthielt kein klares Mordgeständnis. Keine rauchende Pistole. Es war nicht wie das Tagebuch von Sirhan Sirhan, der « RFK muss sterben», « RFK muss getötet werden» geschrieben hatte. Es war schwerer zu durchschauen, verrätselter. Danny schrieb zwar auch über seine Zeit in Sacramento, aber nichts über seine Verhaftung, nichts über die beiden Männer im Güterwagen. Nichts darüber, was sie womöglich gesagt hatten.
    Das Tagebuch beantwortete bestimmte Fragen und ließ andere auf eine Weise offen, die einen verrückt machen konnte. Würde ich je erfahren, was wirklich geschehen war und wie eines zum anderen geführt hatte? Oder war ich naiv, dass ich es überhaupt versuchte? Waren die einzelnen Faktoren, die physischen wie die psychischen, doch zu komplex? Wenn sich ein Mensch in seinem selbst geschaffenen Labyrinth verliert, ist es dann überhaupt möglich, seinen Weg zu rekonstruieren? Seine Handlungen? Die Gedanken in seinem Kopf?
    Ich bewegte mich zwischen den Leuten her, und die Welt kam mir zutiefst surreal vor, als wäre Dannys Realitätsverlust ansteckend. Ich hatte das Gefühl, auch meine eigene Wahrnehmung war gestört. Hunderte Kilometer war ich von zu Hause weggereist, um dieses Tagebuch zu lesen, und plötzlich war auch ich allein, und mir war schwindelig vom Blick in die finsteren Abgründe des Denkens, den mir die Seiten gewährt hatten.
    Ich begann ein Gespräch mit ein paar Ärzten aus Portland und Nebraska. Wir redeten über eine neue Medizintechnik. Eine Anästhesistin aus Providence erklärte mir, ich solle, während ich hier sei, unbedingt versuchen, in ein Konzert zu gehen. Austin sei ihre Lieblingsstadt, sogar in den Supermärkten gebe es Live-Musik. Ich antwortete, das würde ich gewiss tun, und entschuldigte mich, um mir noch ein Glas zu holen.
    Ich sah in die Gesichter von Fremden und dachte an die Menschen im Leben meines Sohnes, an Ted und Bonnie Kirkland, an die Mexikaner, die ihn betrunken gemacht und ihm ein Messer für den Stiefel geschenkt hatten, an die hübsche junge Bibliothekarin. Er hatte sie alle in seinem Tagebuch beschrieben. Es waren gute Menschen, freundlich und klug. Warum hatte er sich nicht an einen von ihnen gewandt? Warum hatte er sie nicht um Hilfe gebeten? Und warum hatten sie ihm nicht von sich aus welche angeboten?
    Ich ging in die Eingangshalle und rief Fran an. Ich musste ihre Stimme hören und mit den Kindern reden.
    «Ist alles in Ordnung?», fragte sie. «Du klingst so komisch.»
    «Mir geht’s gut», sagte ich. «Ich habe nur ein paar Gläser getrunken.»
    «Gut», sagte sie. «Du musst dich mal entspannen. Besauf dich. Geh in einen Stripclub oder mach sonst einen Unsinn. Amüsier dich.»
    «Ich vermisse euch», sagte ich.
    «Wir vermissen dich auch», antwortete sie. «Es gab Spaghetti mit Fleischklößchen, und wir haben uns einen Film mit Superhelden angesehen. Die Jungs putzen sich gerade die Zähne, ich musste es

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