Der Vater des Attentäters (German Edition)
die in meiner Tasche versteckten Patronen. Wäre das der Moment gewesen? Hatte ich die Bedeutung des Tags falsch eingeschätzt? Aus dem Augenwinkel sah ich IHN und SEINE Familie in den SUV steigen und bemerkte erst jetzt den Begleitwagen in der Auffahrt und, ein Stück weiter vorne, einen dritten Wagen, ein Zivilfahrzeug mit zwei weiteren Beamten in schwarzen Mänteln, die mich ebenfalls musterten.
Ich nickte ihnen auf eine Weise zu, die, wie ich hoffte, beiläufig war, während hinter mir die beiden SUVs aus der Auffahrt bogen und davonpreschten. In diesem Augenblick erschien es mir als Glück, dass ich die Waffe vergessen hatte.
Kurz darauf ließ auch der dritte Wagen den Motor an, vollführte eine 180-Grad-Wende und fuhr den anderen hinterher.
Ich stand da, stützte die Hände auf die Knie und versuchte zu Atem zu kommen. Ich war wie benommen. Ich war zu SEINEM Haus gegangen, und ER war herausgekommen. Das kann kein Zufall sein. In meiner Erinnerung verschwimmt die blendende Sonne mit SEINEM Auftauchen. Es war, als hätte IHN die Sonne höchstpersönlich hervorgezaubert.
Jetzt verschwand sie hinter einer Wolke, und ich sah nur noch Flecken, dahintreibende Blasen aus Wolkengrau, über den Schnee gleiten.
Der große Mann lebt also zu Hause und hält dort seine Lebenslüge aufrecht, befestigt sie, wie man mit Sandsäcken den Lauf eines Flusses sichert. Aber wieso waren keine Kamerateams da? Die Fotografen, die SEINE Lüge verkaufen sollen? Oder ging es in diesem Fall nur um die private Lebenslüge? War es ein Spiel nur für die Familie?
Ich rief sie mir wieder vor Augen. Den Vater, die Mutter und ihre beiden Kinder. Wie glücklich sie schienen. Ich dachte an Rachels freundliches Winken. Wie perfekt das alles war, wie vollständig. Und doch habe ich in diesem Moment, als die Sonne erneut hinter den Wolken hervorkam, begriffen, dass es sogar um eine noch größere Lüge geht.
Denn sie sind keine vollständige Familie. Da ist eine Lücke, ein fehlendes Glied. Es hat einmal einen ersten Sohn gegeben, richtig? Den ertrunkenen Sohn. Er ist ein Geist, ein Schatten, der ihnen folgt. Er ist nicht da, körperlich abwesend, aber sein Schatten verfolgt sie.
Und dann habe ich meinen eigenen Schatten im Schnee gesehen. Er reckte sich auf SEIN Haus zu, eine von der Nachmittagssonne langgezogene Silhouette. Ich habe diesen Schatten gesehen und musste mich vor Benommenheit hinsetzen, direkt dort auf den eisigen Boden. Es war der Schatten des verlorenen Sohnes. Ich bin mir ganz sicher. Aber gleichzeitig konnte ich sehen, dass es mein eigener Schatten war. Irgendwie gehörte er uns beiden. Der Schatten zog sich bis zu SEINEM Haus und verband mich mit IHM und SEINER Familie.
Eine ganze Gedankenlawine hat mich überwältigt. Waren das Zufälle? Komische Gleichzeitigkeiten? Bin nicht auch ich ein verlorener Sohn? Eine Lebenslüge? Mein eigener Vater hat mich im Stich gelassen, ist nach New York gegangen und hat erneut geheiratet, hat zwei weitere Kinder in die Welt gesetzt. Er hat jetzt seine eigene vollständige Familie, seine eigene glückliche Familie, kann in der Auffahrt stehen und den Nachbarn zuwinken. Und doch haben auch sie einen Geist (mich), der sie verfolgt, einen Schattensohn.
Vor mir trottete ein Hund über die ruhige Straße (ein Wolf?). Ich habe verstanden, dass ich die Verbindung bin. DIE VERBINDUNG . Das ist mir plötzlich klar geworden. SEINE Lüge ist meine Lüge. Stell dir drei Zahlen nebeneinander vor: 2 2 4. Sie sind nichts als eine Reihe von Ziffern, bis man ein + und ein = hinzufügt.
Plötzlich werden sie eine Gleichung, ein Schluss (2+2=4). Unwiderlegbar.
Es war eine Offenbarung für mich. Wie das letzte Teil eines Puzzles.
Ich bin der Schattensohn.
Sohn/Sonne??
Alpha/Omega.
Wolf/Schaf.
[Die restlichen Seiten dieses Teils wurden herausgerissen.]
Ich ließ mich zurück aufs Bett sinken. Dannys Tagebuchseiten lagen auf einem ordentlichen Stapel neben mir. Nach seinem Montana-Aufenthalt waren die Einträge seltener geworden, die Einzelheiten alltäglicher. Es ging darum, welche Strecken er zurückgelegt und was er wo gegessen hatte – fast so, als würde Danny sich selbst etwas verschweigen. Senator Seagram wurde kaum noch genannt. Kein Wort mehr über Schattensöhne und darüber, was ihm in einer von der Sonne beschienenen Straße in Helena offenbar geworden war.
Warum? Was hatte das zu bedeuten?
Vielleicht hatten ihm seine eigenen Gedanken Angst eingeflößt? Vielleicht hatte ihn das,
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