Der Vater des Attentäters (German Edition)
ihnen nicht mal sagen.»
Nachdem wir aufgelegt hatten, ging ich durch die Hotelhalle hinaus auf die Straße. Ich brauchte frische Luft. Draußen war es sicher noch fünfundzwanzig Grad warm. Ich band mir die Krawatte ab und steckte sie in die Tasche. Es war acht Uhr, und vom Tageslicht blieb nur ein letzter Schimmer. Ein Mann mit einer Fahrradrikscha hielt auf mich zu. Ob er mich irgendwo hinfahren könne? Ich überlegte. Wohin würde ich wollen? Und dann hatte ich eine Idee. Ich gab ihm eine Adresse im Universitätsviertel, gleich bei der Guadalupe Street. Er nannte seinen Preis, und ich stieg ein.
Wir müssen ein komisches Bild abgegeben haben, ein mittelalter Mann im Anzug und ein Hippie in Flipflops, der ihn durch die Straßen fuhr. Wir nahmen die Congress Avenue in Richtung Capitol und bogen links in die 11 th Street. Ich stellte mir meinen Sohn auf seinem Fahrrad vor, wie er ganz in Schwarz gekleidet durch die mondlose Nacht fuhr. Wie kam es, dass jemand unsichtbar sein wollte?
Ich bin der Schattensohn.
Ein Schatten war ein Stück Dunkel hinter einem von hellem Licht beschienenen Objekt. Was war ich in Daniels Vorstellung? Das Objekt oder das Licht? Hatte ich ihn in Schatten gehüllt? Meine Karriere? Hatte ich ihn mit meinem Leistungsdrang zum Scheitern verurteilt?
Ich zermarterte mir das Gehirn, ahnte aber in meinem tiefsten Innern, dass mich eine mögliche Antwort auf diese Frage auch nicht weiterbringen würde. Wenn Danny seine Reise aufgrund einer in ihm schlummernden Geisteskrankheit angetreten hatte und wenn er irgendwo in diesem großen, weiten Land in seiner Einsamkeit die Verbindung zur Wirklichkeit verloren hatte, wie sollte ich dann noch die Gedanken und Motive verstehen, die ihn angetrieben hatten?
Das Haus der Verbindungsstudenten lag in der Rio Grande Street, drei Straßen westlich von der Guadalupe Street. Es war ein zweistöckiges Gebäude eines undefinierbaren Architekturstils, mit einem großen Erkerfenster vorn, in dem ein Bettlaken hing, damit keiner hineinsehen konnte. Das orange-weiße Longhorn-Logo, von dem mein Sohn geschrieben hatte, war zu einer kaum mehr erkennbaren Spur auf dem braunen Gras verblichen. Ich bezahlte den Rikschafahrer und nahm das Haus näher in Augenschein. Von nicht sehr weit schallte das tiefe Bassdröhnen einer Party zwischen den Bäumen herüber. Nur ein Fenster im Haus war erleuchtet, hinter dem ich aber keinerlei Bewegung ausmachen konnte. Der Rikschafahrer fragte mich, ob ich auch wieder zurückmüsse. Ich sagte, ich käme schon zurecht, und er radelte klingelnd davon. Es war jetzt fast zwei Jahre her, dass mein Sohn hier gewohnt hatte. Ob sich noch jemand an ihn erinnerte? Ich versuchte mir vorzustellen, was für Gesichter seine Mitbewohner von damals wohl gemacht hatten, als sie nach Seagrams Ermordung die ersten Bilder von Danny im Fernsehen sahen. Sicher dachten sie daran, wie er die Pistole auf sie gerichtet hatte. Überlegten sie, wie nahe sie in dem Moment dem Tod gewesen waren? Wurde ihnen bewusst, dass sie damit ein Teil der Geschichte geworden waren?
Mein Mund und meine Kehle waren trocken, aber auch meine Hände. Es war schon immer eine Stärke von mir gewesen, auf Druck mit Ruhe zu reagieren. Ein Pick-up fuhr vorbei, besetzt mit Burschen, die ganz offensichtlich nach einer Party Ausschau hielten. Ich ging zur Tür und klingelte. Nichts. Ich klingelte noch einmal.
Ein junger Mann öffnete mir. Er war vielleicht neunzehn und hatte sandbraunes Haar.
«Entschuldigen Sie, wenn ich störe», sagte ich.
«Habe ich etwas ausgefressen?», wollte er wissen.
Es war der Anzug. Burschen in seinem Alter redeten nur mit so förmlich gekleideten Männern, wenn es um etwas Offizielles ging.
«Nein», sagte ich.
«Alle anderen sind auf einer Party.»
«Das ist okay», sagte ich. «Ich möchte … Ich möchte Sie nur um einen Gefallen bitten. Ich bin Arzt und auf einer Konferenz hier in der Stadt, und mein Sohn … der hat hier früher gewohnt.»
«Ihr Sohn?»
«Er ist im letzten Jahr gestorben, und ich … ich würde gerne sein Zimmer noch einmal sehen.»
Der Junge musterte mich. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, spät noch an die Tür klopfenden Fremden gegenüber vorsichtig zu sein. «Ihr Sohn», wiederholte er.
«Er ist ertrunken», sagte ich. «Bei einem Bootsunfall auf dem Lake Travis. Es war Alkohol mit im Spiel. Seine Mutter und ich, wir sind aus Michigan, und dort haben wir ihn auch begraben, aber jetzt … jetzt bin ich hier gerade auf
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