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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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verläuft die Geschichte von Städten: Was es heute noch irgendwo gibt, kann morgen schon etwas ganz anderes sein.
    Ich stellte mir meinen Sohn vor, wie er mit einem Klemmbrett in der Hand hier stand und Studenten in die Wahlliste eintrug. Wie Oswald, der in New Orleans Flugblätter verteilt hatte, ein Mann mit einem schrecklichen Schicksal. Hätte er sich in dem Moment, als er einen Kugelschreiber an sein Klemmbrett band, vorstellen können, einmal auf die Leiche eben des Kandidaten hinabzusehen, für den er gerade die Werbetrommel rührte? Kann irgendwer von uns in die Zukunft sehen und inmitten all des Glitzerns und Aufschäumens der Zeitläufte einen Blick auf das erhaschen, was einmal sein wird? Oder lauert unsere Zukunft in der Tiefe? Versteckt sie sich in dunklen Löchern, unter knochigem Wurzelwerk in einem nassen Sumpf?
    Während ich noch so dastand, klingelte mein Handy und riss mich aus meinen Gedanken. Ich fischte es aus der Tasche und rechnete damit, Frans Nummer zu sehen. Stattdessen stand «unbekannter Anrufer» auf dem Display. Ich drückte den Antwortknopf und hörte eine Bandmitteilung, eine Frauenstimme sagte mir, ich würde mit dem Insassen eines Bundesgefängnisses verbunden. Mein Puls schnellte hoch. Ob etwas passiert war?
    «Daniel?», rief ich.
    «Hey, Dad.»
    «Was gibt es? Es ist spät bei euch.»
    «Yeah, eigentlich lassen sie uns nach acht nicht mehr telefonieren.»
    «Ist etwas passiert?»
    Ein Krankenwagen fuhr mit heulender Sirene vorbei. Ich steckte mir einen Finger ins Ohr, um die Antwort zu hören.
    «Alles in Ordnung», sagte er. «Wo bist du?»
    «Auf einer Ärztekonferenz», sagte ich. «In … Houston.»
    Warum log ich ihn an? Was würde Daniel sagen, wenn er wüsste, dass ich seinen Spuren folgte?
    «Kannst du gut schlafen?», fragte ich ihn.
    «Meist ein paar Stunden», sagte er. «Ich lese viel, und sie haben mir Wasserfarben erlaubt. Ich versuche zu malen, woran ich mich erinnere. Die große Weite. Es tut gut, einen Fluchtpunkt zu haben, auf den man blicken kann.»
    Ich dachte an meine jüngeren Söhne, die schlafend im Bett lagen.
    «Hör zu, Pop», sagte Daniel. «Ich wollte nur, dass du es weißt. Sie haben einen Termin festgelegt.»
    «Einen Termin?»
    «Für die Hinrichtung. Den 14. Dezember.»
    Den 14. Dezember. In sechs Monaten. Ich war ein in der Schwerelosigkeit des Alls verlorener Astronaut.
    «Den 14. Dezember dieses Jahres?»
    «Ja.»
    «Aber das ist schon so bald.»
    «Ja.»
    Er ließ es mich verdauen. Eine Automatenstimme meldete sich, um mich daran zu erinnern, dass ich mit dem Häftling eines Bundesgefängnisses sprach. Es war wieder dieselbe Frauenstimme, und ich versuchte, mir ihr Gesicht vorzustellen. Ein hartes Gesicht. Wie das von Schwester Ratched aus Einer flog über das Kuckucksnest.
    «Danny», sagte ich. «Bitte. Ich will nicht streiten, aber du musst uns in die Berufung gehen lassen.»
    «Nein», antwortete er. «Es ist besser so. Ich halte es nicht länger aus, in einer Kiste mit Toilette zu leben und auf einen Wasserfarben-Horizont zu blicken.»
    «Vielleicht schaffen wir es, dass du verlegt wirst.»
    «Nein, Dad. Ich gehöre hierher, zu den Schlimmsten von allen.»
    Wir sind nicht alle auf dieser Erde, um das Richtige zu tun .
    «Unsinn», sagte ich. «Das ist Unsinn! Du bist ein guter Kerl. Du hast einen Fehler gemacht.»
    «Dad», sagte er mit ruhiger Stimme, «wir beide kennen die Wahrheit.»
    «Was für eine Wahrheit?»
    «Ich hätte bei einem Flugzeugabsturz sterben sollen», sagte er.
    Verblüfftes Schweigen. Ich konnte nicht denken, hatte keine Worte.
    «Also, ich wollte dir nur Bescheid geben», sagte er. «Gute Nacht.»
    «Nein, Daniel. Warte.»
    Die Verbindung brach ab. Ich stand noch lange mit dem Handy am Ohr da und wollte nicht wahrhaben, dass er aufgelegt hatte. Am 14. Dezember. In sechs Monaten. Mein Sohn hatte noch sechs Monate zu leben. Dieses Wissen war eine Faust, die mich gepackt hielt und mir die Luft abdrückte.
    Den Blick auf den Verkehr gerichtet, ohne etwas zu sehen, stand ich reglos da, war gefangen auf dem Grund einer ausgetrockneten Quelle, verdurstete in einem Loch, aus dem das Wasser für ein ganzes Dorf sprudeln sollte. Ein junges Mädchen trat auf mich zu. Sie zog einen Welpen an einer zerfaserten Schnur mit sich mit, hatte strähniges Haar und fragte mich, ob ich etwas Kleingeld hätte. Ich holte meine Brieftasche heraus und gab ihr einen Hundert-Dollar-Schein.
    «Ich blas dir keinen, Alter», sagte

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