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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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sie.
    «Natürlich nicht», sagte ich. «Ich habe selbst Kinder. Bitte. Kauf dir was zu essen.»
    Ich fragte sie noch, ob sie zur Schule gehe. Sie meinte, sie arbeite daran, aber in Moment habe sie einfach nur Hunger.
    «Hast du etwas, wo du heute Nacht schlafen kannst?»
    Sie zuckte mit den Schultern. Ohne zu zögern, gab ich ihr die Schlüsselkarte zu meinem Hotelzimmer.
    «Das ist ein Zimmer im ‹InterContinental›. Es ist bis Donnerstag bezahlt. Nimm ein Bad, bestell was beim Zimmerservice. Niemand wird eine Frage stellen.»
    Sie sah mich zweifelnd an.
    «Ich bin zu einer Konferenz hier», erklärte ich ihr, «aber ich bleibe nicht. Ich kann nicht. Ich muss abreisen.»
    «Wohin?», fragte sie.
    Ich dachte an all die Kleidungsstücke, die ich bei unserem Umzug weggegeben hatte, am mein abgeschnittenes Haar, das Gewicht, das ich verloren hatte. Ich dachte an meine drei Söhne, die Frau, die mich liebte, und die Exfrau, die vor allem sich selbst liebte. Ich dachte an die Chemikalien, die sie meinem Jungen injizieren würden, an das Gift, das seine Muskeln lähmen und sein Herz zum Stillstand bringen würde. Der Mann, der ich fünfzig Jahre lang gewesen war, existierte nicht mehr. Ich war ein anderer.
    «Nach Iowa», sagte ich. «Ich muss nach Iowa.»

 
     
    Es war der 20. Mai, drei Monate nachdem er Montana verlassen hatte, von dem dortigen Winter geflohen war. Der Weg, den er seitdem zurückgelegt hatte, war der Weg eines Rastlosen. Er fuhr von Stadt zu Stadt und blieb nirgends länger als ein paar Tage. Er kam nach Yakima, Seattle, Portland, Eugene, Klamath, Eureka, Ukiah, San Francisco, Berkeley und Davis. Die Mammutbäume, die er auf seiner Fahrt gesehen hatte, reichten für ein ganzes Leben. Er schlief an den Stränden Nordkaliforniens und wachte morgens mit den Füßen im Wasser auf. Nach einem Jahr im Landesinneren kamen ihm die endlosen Wellen wie eine Erlösung vor. Aus den Regenwäldern wurden Pazifikklippen und schließlich karge Anhöhen und Weinberge. Die Männer, denen er begegnete, waren erst zottelig, dann ordentlich, dann fett. Frauen unbestimmten Alters beäugten ihn aus Wohnwagen auf Campingplätzen, zwinkerten ihm in Billigrestaurants zu und zeigten ihm auf dem Rücksitz von Daddys Motorrad den Mittelfinger.
    Er redete mit niemandem, höchstens mal, um für einen Zwanziger zu tanken oder sich einen Hamburger zu bestellen. Er war misstrauischer geworden, argwöhnisch Fremden gegenüber, verdruckster. Irgendwo in den Schneewehen der nördlichen Ebenen war ihm sein Lächeln verloren gegangen, und er lachte nur noch aus Zorn.
    Er war zu lange in Montana geblieben, das wusste er. Nach jener Begegnung vor dem Haus der Senators, seiner Offenbarung, hatte er noch weitere sechs Wochen in der deprimierenden Provinzatmosphäre des Derbyshire gehockt, von Schneestürmen eingeschlossen, die durch den großen Norden tobten. Sonne gab es nur ein paar Stunden am Tag, und in ihrem blassen Licht wirkte alles kalt und steril. Das Tageslicht färbte die Welt blau. Seine Haut kam ihm fleckig wie die eines Toten vor, als wäre er ein Zombie in einer Stadt voller Untoter.
    Was ihm in der Straße des Senators so hell und klar erschienen war, trübte sich im modrigen Sarg seines Zimmers wieder ein. Er war von Weiß umgeben, und doch wurde alles, was er berührte, grau. Er schlief ein und wachte stundenlang nicht auf, ganze Tage nicht. Seine Gedanken verdunkelten sich. Es kam ihm vor, als würde er für den kurzen Augenblick seiner Erleuchtung bestraft, wie ein Mann, der auf seinem Flug der Sonne zu nahe gekommen war. Die Energie, die ihn in den Tagen direkt nachdem er den Senator gesehen hatte, durchströmt hatte, verwandelte sich unerklärlicherweise zu trägem Schlamm und Matsch. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal eine Frau lachen gehört hatte. Seine Muskeln waren aus Blei, er fühlte sich nicht länger wert, geliebt zu werden, und wollte nur noch schlafen. Während der Fernseher lief, wurde ihm der ölige, metallische Geschmack seines Pistolenlaufs vertraut. Der Tod erschien in jenen Momenten verlockend. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie er so tief hatte fallen können. War Carter Allen Cash so? Ein sich eingrabendes Tier? Gollum in seiner Höhle?
    Im Fernsehen sah er Senator Seagram Bühnen besteigen, mit Leno, mit Letterman, mit Conan sprechen. Er studierte sein Lächeln. Sie waren sich so nahe gekommen, er und der Senator. Er hatte sich selbst im hellen Sonnenlicht

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