Der Vater des Attentäters (German Edition)
Fromme am nächsten Tag vor dem Richter stand, sagte sie: «Ob ich den Mordversuch bedaure? Ja und nein. Ja, weil am Ende nur dabei herausgekommen ist, dass ich den Rest meines Lebens weggeworfen habe. Und nein, es tut mir nicht leid, weil es zu dem Zeitpunkt der angemessene Ausdruck meines Zorns zu sein schien.»
Carter Allen Cash stand unter den alten Eichen und versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen, als sie die Pistole hob. Es hatte angefangen zu regnen, und das Geräusch der Regentropfen auf den Blättern um ihn herum klang wie das besänftigende Flüstern einer Mutter. Er überlegte, ob er zu Hause anrufen sollte. Es war lange her, dass er mit jemandem gesprochen hatte, der ihn kannte. Lange her, seit jemand ihm etwas mit Liebe in der Stimme gesagt hatte. War man ein Fremder in dieser Welt, dann bekamen alle Stimmen etwas Unpersönliches, Unbeteiligtes. Die Leute sagten Dinge wie: «Vergessen Sie Ihr Wechselgeld nicht» oder: «Wollen Sie das mit Käse?» Niemals hörte man den eigenen Namen mit Zuneigung ausgesprochen.
Seine große Tat war jetzt nahe. Bis dahin waren es nur noch Wochen, aber er konnte noch nicht sehen, was geschehen würde, noch nicht ganz. Es zeichnete sich erst am Rande seines Gesichtsfeldes ab. Einen kurzen Blick darauf hatte er bei einer Gun Show in Woodland erhascht, die in der Sporthalle der dortigen Highschool organisiert worden war. Die Händler hatten Klapptische aufgestellt und mit ihrem tödlichen schwarzen Stahl bedeckt. Ein einstmals bekannter Wrestler gab Autogramme, und silikonbusige Frauen in Badeanzügen posierten wie Action-Stars mit halbautomatischen Waffen. Er war zwischen den Klapptischen entlanggegangen und hatte die Pistolen, Schrotflinten und Gewehre studiert. Männer mit Schnauzbärten fragten ihn, ob er etwas Spezielles suche. Sie erklärten ihm die Funktionsweise von Waffen, die Bulldog und Street Sweeper hießen. Sie sprachen von Rückstoßgrößen und Magazinvolumen.
Er ließ sich eine deutsche 9mm zeigen und probierte, wie eine Smith & Wesson, Kaliber 38, in der Hand lag. Wenn er bar bezahle, sagte der Händler, gebe er noch eine Schachtel panzerbrechende Munition hinzu.
«Die hält jeden Eindringling auf», erklärte er, «egal, ob er eine Kevlar-Weste trägt oder nicht.»
Austin schien hundert Jahre her zu sein, Teil eines anderen Lebens. Die Zeit, die er dort verbracht hatte, kam ihm wie die Erinnerung eines anderen Menschen vor. Er konnte sich Natalie nicht mehr vor Augen rufen, sondern wusste nur noch ganz vage, wie sie ausgesehen hatte. Er erinnerte sich an ihr Haar, das ihr bis über die Schultern gefallen war, und an ihre weiße Hose.
Jeder Ort, den er besuchte, verschwand gleich darauf wieder aus seinem Gedächtnis. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass es immer noch eine Stadt namens Austin in einem Staat namens Texas gab, wo Frauen in Bikinis das ganze Jahr über in zwanzig Grad warmem Wasser schwammen. Und gab es wirklich einen Ort namens New York oder Connecticut? Er las in der Zeitung darüber – wenn er denn Zeitung las, was er so gut wie nie tat. Die Orte mussten noch existieren, aber er konnte sich jene Welt wirklich nicht mehr vorstellen. Nicht hier in dieser Highschool-Sporthalle, in der er einem Mann in einer Tarnhose drei Hundert-Dollar-Scheine für eine Walther P99 und eine Schachtel Patronen gab.
Drei Wochen später erinnerte er sich an diesen Moment: Der Händler hatte ihm die Munition für die Walther in einer gebrauchten Plastiktüte von Popeyes gegeben – und plötzlich kam auch er ihm wie eine Figur aus einem Traum vor. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren, gleichzeitig jedoch hatte er das Gefühl, dass die Welt einfacher und übersichtlicher wurde. Schlafen, essen, scheißen. Schlafen, essen, scheißen, und wenn er auch die Gesellschaft um sich herum nicht mehr wahrnahm, wusste er doch, wohin er ging. Er besaß die Voraussicht einer Pfeilspitze, die ihr Ziel lange vor dem Schaft und der Befiederung kannte. Er war ein Rennfahrer, der durch die links und rechts verschwimmende Welt raste, den Blick allein auf den Fluchtpunkt gerichtet.
Er beschloss, für eine Weile Zug zu fahren. Im letzten Monat hatte er in Portland ein Mädchen kennengelernt, das ihn darauf gebracht hatte. Auf seinem Weg nach Kalifornien hatte er sich für drei Tage in einer Absteige in der Stadt eingemietet. Das Mädchen saß mit einem Welpen an der Leine auf einer Decke im Park und schenkte ihm einen Lutscher. Sie erzählte ihm, dass ihr Dad sie
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