Der Vater des Attentäters (German Edition)
und die ganze Familie früher immer wieder zum Bahnhof gebracht und aufgefordert hätte, sich für einen beliebigen Bahnsteig zu entscheiden. Wohin immer der nächste Zug von dort gefahren sei, sie seien eingestiegen und mitgefahren. Als er dann später in einem leeren Güterwaggon durch die Landschaft raste, dämmerte ihm, dass sie gemeint hatte, er solle sich eine Fahrkarte kaufen und regulär mitfahren. Aber er hatte sie wörtlich verstanden: Spring einfach auf einen Zug, hatte sie gesagt. Fahr mit, wohin immer er unterwegs ist.
Also hatte er sich eines Abends in der Dunkelheit versteckt, als sich der letzte Wagen eines Güterzugs näherte, war mit ausgestreckten Armen durchs Gesträuch gelaufen und hatte nach einer der dünnen Metallstangen gegriffen. Es war neblig gewesen, die Stange glatter, als er gedacht hatte, und seine Hand war abgerutscht. Einen Moment lang hatte er sich unter die Räder des Zugs fallen sehen, sah bereits seinen Tod vor sich, und es war ein einsames Ende, das Ende eines Hobos. Ein paar Tage später würden Kinder seine Leiche finden, der Sheriff würde gerufen und er in die Leichenhalle gebracht werden. Er würde ein Unbekannter bleiben, der eine Nummer bekam, und wenn auch nach Wochen niemand nach ihm gefragt hätte, würde er eingeäschert oder in einem anonymen Grab beerdigt werden. Der Gedanke machte ihn traurig, auch wenn es vielleicht die richtige Art zu sterben war. Versuchte er schließlich nicht genau so etwas? Spurlos zu verschwinden? Er hörte das Kreischen der Bremsen, der Zug steuerte auf eine Kurve zu, er spürte die Welt von sich wegtaumeln – traf auf die harte Erde und rollte ein paar Meter. Der Aufschlag nahm ihm fast den Atem.
Lange Zeit lag er unter den Sternen und lauschte dem Rauschen seines Bluts. Er begriff, dass es noch nicht zu Ende war, und er dachte an den Schnee. Er dachte an Natalie und ihre weiße Hose. Es war Mai, und die Frühlingsniederschläge hatten die Flüsse anschwellen und wütend werden lassen. Er bewegte die Finger, die Füße, stand auf. Der Güterzug war schon fast aus seinem Blick verschwunden. Er wollte nach Kalifornien, dem gelobten Land, er wusste, was er tun würde, und es hatte für ihn nichts Verabscheuungswürdiges mehr. Seine Tat würde eine Eisskulptur sein, mit einer Kettensäge geformt.
Manchmal, dachte er, braucht man eine Waffe, um etwas Schönes zu erschaffen.
Als er später an diesem Abend in einen Diner ging, wusste er schon, was für ein Lied aus der Jukebox klingen würde, bevor er es hörte: Today von den Smashing Pumpkins. Und den nächsten Zug, dem er hinterherlief, erwischte er.
Der letzte Flug nach Iowa ging um 0.35 Uhr. Ich kam fünfzehn Minuten zu spät. Der Mann am Informationsschalter vertröstete mich auf den ersten Flug am Morgen um 5.30 Uhr. Mein Hotelzimmer hatte ich abgegeben, und im Übrigen schien es sowieso sinnlos, den ganzen Weg zurück in die Stadt zu fahren, nur um gleich wieder umkehren zu müssen. Also beschloss ich, die Nacht auf dem Flughafen zu verbringen. Während ich durch die leere Halle wanderte, kämpfte ich gegen das Verlangen an, die Tage bis zur Hinrichtung meines Sohnes zu zählen. Die Wochenenden und die Feiertage. Die Tage in Wochen und Minuten umzuwandeln und bis auf die Sekunde genau zu berechnen, wie viel Zeit ihm noch blieb.
Die Start- und Landebahnen lagen im Dunkeln, der leere Flughafen verkörperte eine Art blutloses Zwischenreich. Das Wort «Terminal» hieß nicht zufällig so. Die Dunkelheit ließ die Fenster zu Spiegeln werden, die alles aufs Genauste reflektierten. Es waren die Geisterstunden der Nacht, der vernebelte Traum der Zeit, in dem wir uns von unserem Leben lösen, durch eine Raum- und Zeitlosigkeit schweben, und jegliche Umstände, die uns zu dem machen, was wir sind, fallen von uns ab. Zwei Uhr morgens. Drei Uhr morgens. Ich beobachtete die Uhr. Ich fuhr mit Laufbändern, besuchte Toiletten mit hundert selbstspülenden Urinalen. Wie sehr sich dieser Flughafen doch von dem unterschied, durch den ich in jener ersten Nacht in New York gestolpert war, um meinen Flug nach Los Angeles zu bekommen. Jetzt war die Schlacht geschlagen, der Krieg verloren. Dreizehnhundert Kilometer von hier schlief mein Sohn in einem Betonsarg, eingeschlossen im letzten Zuhause, das er auf dieser Welt haben würde.
Mir lief die Zeit davon, eine vertraute Panik ergriff mich. Wie naiv ich in diesen letzten Monaten doch gewesen war zu denken, mein Sohn sei in seiner Todeszelle sicher.
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