Der Vater des Attentäters (German Edition)
Wie hatte ich glauben können, nur weil er an einem Ort war, wo ich ihn sehen und besuchen konnte, würde er nicht verschwinden. Aber er war ja immer schon ein Entfesselungskünstler gewesen, einer, der sich entzog. Als Kleinkind hatten wir ihn in zwei Strampler stecken müssen, und der äußere musste den Reißverschluss hinten haben, damit er sich nachts nicht daraus befreite wie Houdini aus seiner Zwangsjacke. Sobald er alt genug war, um laufen zu können, verschwand er in Supermärkten und Bekleidungsgeschäften, kaum dass wir ihm den Rücken kehrten. In seiner Highschool-Zeit in L.A. kletterte er nach Mitternacht aus dem Fenster, hangelte sich wie Spiderman an Regenrinnen entlang und stieg an Wasserrohren hinunter. Er fand immer einen Weg, meinem Zugriff zu entkommen. Er glich einem verletzten Tier, das ich erfolglos zu retten versuchte und das mit Vernunft nicht zu erreichen war.
Der Tod würde seine letzte Flucht sein.
Während ich durch die leere Flugzeughalle wanderte, nahm ich mir vor, morgens Murray anzurufen. Wir würden Einspruch gegen das Urteil einlegen. Es war das Einzige, was ich tun konnte. Ich war sein Vater. Falls Daniel beschloss, deswegen nie wieder ein Wort mit mir zu wechseln, würde ich das als Preis für sein Leben akzeptieren. Ich musste es einfach tun, damit er mich nicht wieder verließ, diesmal für immer.
Um Viertel vor vier stand ich schwankend und halb schlafend an einem Urinal. Das Neonlicht über mir flackerte. Hinter mir hörte ich ein paar leise Schritte, dann die tiefe, sanfte Stimme eines Mannes.
«Ich habe gehört, Sie suchen mich.»
Ich drehte mich halb um. Ein untersetzter Mann in seinen Fünfzigern stand rechts hinter mir. Er trug eine Hausmeisteruniform.
«Wie bitte?», fragte ich.
Statt etwas zu sagen, ging der Mann zu den Kabinen und drückte eine Tür nach der anderen auf, um sich zu vergewissern, dass sie leer waren. «Die spannen Seile, zwingen die Leute in Schlangen, stellen Metalldetektorschleusen auf und erklären Ihnen, dass Sie sicher sind», sagte er. «Aber in Wahrheit kann jeder die Sicherheitsmaßnahmen des Flughafens umgehen, wenn er nur weiß, wo die Lücken sind.»
Nervös zog ich den Reißverschluss meiner Hose hoch und trat einen Schritt zur Seite. Würde mich jemand hören, wenn ich um Hilfe rief? Die Spülung des Urinals wurde ausgelöst und ließ mich zusammenfahren. Ihr Geräusch hallte durch den Raum.
«Ist die Toilette geschlossen?», fragte ich verwirrt. «Habe ich ein Schild übersehen?»
Der Hausmeister behielt mich über den Spiegel im Blick, während er die Kabinen inspizierte.
Ich dachte an die Worte im Tagebuch meines Sohnes.
Wolf oder Schaf?
«Wissen Sie, wer ich bin?», fragte der Hausmeister.
Ich sah ihn verständnislos an. Die Summe der Zeit schien sich in diesem Augenblick zu bündeln, ich befand mich in einem Traum. Einem Traum, in dem ein Hausmeister vorkam. Dieser Mann symbolisierte etwas. Dann plötzlich begriff ich. Ein schwarzes Loch öffnete sich unter meinen Füßen. Ich sagte: «Sie sind Marvin Hoopler.»
Er nickte.
«Captain Marvin Hoopler», präzisierte ich. «Ehemals bei den Special Forces.»
«Und Sie sind Paul Allen», sagte er. «Ein Arzt aus Colorado, der vorher in Connecticut und New York gelebt hat. Wie ich höre, suchen Sie nach mir.»
Mein Mund war trocken. «Wer sagt das?»
Hoopler hatte alle Kabinen kontrolliert. Er hielt kurz inne, lauschte mit abwesendem Blick, nickte befriedigt, weil wir allein waren, und sah mich an. «Es ist mir zu Ohren gekommen.»
Ich spürte den Schweiß auf meinem Rücken. «Ich brauche Ihre Hilfe», sagte ich. «Es geht um meinen Sohn.»
Er nickte. «Ich bin Ihrem Sohn einmal begegnet», sagte er. «In einem Zug.»
Mein Pulsschlag beschleunigte sich. «Einem Güterzug», sagte ich.
«Er hat damals behauptet, sein Name sei Carter, aber das stimmte nicht.»
«Nein, er heißt Danny. Daniel.»
Hoopler wandte sich ab, um sich die Hände zu waschen. Seife und Wasser ergossen sich automatisch über seine Hände. «Sie stellen sich viele Fragen», sagte er. «Ihr Leben hat eine Wende genommen, und Sie können es nicht verstehen.»
Ich nickte.
«Solche Dinge geschehen», fuhr er fort. «Unerwartete Ereignisse. Sie treffen einen wie aus heiterem Himmel, sie sind wie Asteroiden – wie sagt man noch? – Weltenzerstörer. Sie katapultieren Sie aus Ihrem Leben, in etwas anderes.»
«Ich muss wissen, was geschehen ist», sagte ich. «Was wirklich geschehen ist.»
Er
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