Der Vater des Attentäters (German Edition)
Tag, als er mit zum Dächer-Teeren gefahren war, hatte er von einem Mann hinten auf der Ladefläche ein Paar Handschuhe gegen seine Uhr eingetauscht.
Und genau an dieser Ecke, beim Warten auf den Pick-up, hatte er eines Morgens vor dem ersten Tageslicht gelesen, dass Senator Jay Seagram, der voraussichtliche demokratische Präsidentschaftskandidat, nach Los Angeles kommen würde. Die Schlagzeile einer Zeitung hatte aus dem Rinnstein zu ihm hochgeblickt: Seagram kommt in die UCLA . Carter nahm die Zeitung und las den zugehörigen Artikel im gelben Schein der Straßenlaterne. Seagram sollte am 14. Juni in Royce Hall zu seinen Wählern sprechen.
Nachmittags nach der Arbeit nahm Carter den Bus nach Westwood, der sich durch die verstopften Straßen voller Schwarzer, Chinesen und Mexikaner schob. Er maß die vorbeiziehende Stadt nach Häuserblocks. Im Gegensatz zum Rest des Landes sah er hier fast nur europäische Autos, und die Fahrer in den feinen Karren, nun, soweit er es beurteilen konnte, waren es alles testículos , die in die Freisprechanlagen ihrer Telefone schrien. Irgendwo in der Gegend von Beverly Hills wurde ihm schlecht, ohne dass er hätte sagen können, ob es an der Schaukelei oder dem lag, was er da sah. Nach der Leere des Westens kamen ihm die verstopften Straßen L.A.s wie eine merkwürdige medizinische Maschinerie vor. Jedes Auto war eine Pille, eine Ampulle, die sich durch krankes Blut bewegte.
Der Bus brachte ihn zur Ecke Wilshire und Westwood Boulevard, von wo er nach Norden ging, vorbei an Peet’s Coffee und den Urban Outfitters. Die Straßen waren voller Studenten auf der Suche nach einer günstigen Mahlzeit. Carter trug noch seine Arbeitssachen, teerverschmierte Jeans und ein verschwitztes braunes T-Shirt. Seine Turnschuhe hatten sich in der Hitze des schwarzen Breis, den er auf dem Dach verteilt hatte, verformt, und die Lücken und Knubbel in den Sohlen gaben seinem Gang etwas Schlingerndes, Unbeholfenes. Er kam sich vor wie eine wandelnde Raucherlunge.
Nördlich der Le Conte Avenue betrat er die von Bäumen gesäumten Wege des Campus. Die Gebäude bestanden aus großen, rosafarbenen Steinblöcken. Zwei Studentinnen wiesen ihm den Weg nach Royce Hall. Sie nannten ihn scherzhaft «Pigpen», und das auf eine Weise, dass er dachte, mit ein wenig Nachdruck – nicht mehr, als man brauchte, um ein Glas zu öffnen – wären sie mit ihm ins Bett gegangen. Er dankte den beiden und ließ sie enttäuscht stehen. Die neoromanischen Türme von Royce Hall sah er, bevor er das 1929 errichtete Gebäude selbst fand. Studenten lagen auf der Wiese davor, Mädchen in Bikinis und Jungen in Surfer-Shorts. Ein paar von ihnen spielten Frisbee. Er hörte das ungleichmäßige Plätschern von Wasser, sah den Brunnen dazu. Die Sonne versank hinter den Bäumen. Er blickte zu den Türmen hinauf und dachte unwillkürlich an einen anderen Turm, den in Austin, von dem aus ein einzelner Mann die Leben von sechzehn Menschen – Männern, Frauen und Kindern – ausgelöscht hatte. Einen nach dem anderen hatte er erschossen. Er verspürte eine Synchronizität, die weit über die Architektur hinausging. Es war, als fügte sich ein Puzzleteil in seinen Platz.
Am schwarzen Brett in der Eingangshalle hingen Infoblätter, die Seagrams Besuch ankündigten. Darauf war ein Foto von ihm, wie er die Arme in die Luft streckte, triumphierend, in Siegerpose. Carter fühlte das Blut in seinem Hals pulsieren. Er musste schnell aus dem Gebäude, bevor das, was er dachte, aus seiner Kehle und seinem Mund sprudelte. Aber als er sich wegzudrehen versuchte, stellte er fest, dass seine geschmolzenen Schuhe buchstäblich auf dem Boden festklebten.
Als er am nächsten Tag mit den Mexikanern auf dem Dach arbeitete, goss er sich kaltes Wasser über den Kopf, denn sie hatten fünfunddreißig Grad im Schatten. Die Mexikaner waren die Sonne gewohnt, aber Carter wurde es ganz schwindlig dort oben, drei Stockwerke über der Erde. Der flüssige Teer unter ihm schien ihn garen zu wollen. Die Stadt um ihn herum flimmerte in der Hitze und wirkte wie eine Fata Morgana. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich zurück nach Iowa, zurück in einen der kühlenden Wassertröge, wo einem die Ausdünstungen des Düngemittels in den Augen brannten.
Er plante seine weiteren Schritte. Im Grunde war es ganz einfach: die Waffe anheben, zielen, schießen. Im letzten Monat hatte er einige Stunden auf einem Schießstand verbracht, und er wusste, dass er sein Ziel treffen
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