Der Vater des Attentäters (German Edition)
das Ganze eine tiefere Bedeutung hat», sagte er. «Ich verstehe das. Mein Sohn ist an einer Möhre erstickt – einer Möhre! In Wahrheit ist alles nur banal, nichts hat eine tiefere Bedeutung. Das sind alles nur Randgeräusche.»
Ich spürte, wie ich die Fassung verlor. Ich war zu müde, zu angespannt, war zu lange der Wahrheit nachgejagt, verzweifelt auf ein Wunder hoffend. «Und was soll das heißen?», fragte ich. «Dass es reiner Zufall war, dass Sie für einen militärischen Zulieferer gearbeitet haben, der durch Seagrams Gesetzesvorstoß eine Milliarde Dollar verloren hätte?»
Er zuckte mit den Schultern.
Es war eine schnelle Geste, die etwas sehr demonstrativ Gleichgültigkeit signalisierte. Ich sah diesen mir unbekannten Mann in seinem Overall an und fragte mich, ob er am Ende gekommen war, um mich auszuschalten. Ein ehemaliger Special-Forces-Mann, Experte in den dunklen Künsten der Menschenvernichtung. Sollten das die letzten Worte vor dem Abfeuern der Kugel sein? Das letzte Achselzucken vor dem Messerstich? Hatte er ein schnell wirkendes Gift bei sich, das seinen Weg in meinen Organismus finden würde und keine Rückstände hinterließ? In den Zeitungen würde stehen, ich sei auf dem Flughafen von Austin, aufrecht sitzend, im Schlaf gestorben. Der Vater des verurteilten Attentäters Daniel Allen , würden sie schreiben. Oder würde er mich umfassen und mir mit seinem eisernen Zugriff das Leben aus der Lunge quetschen? Zwei Fremde, die wie ein Liebespaar in einer leeren Toilette miteinander rangen?
Ich versuchte diese Gedanken schnell zu verscheuchen und fuhr fort: «Sie wollen mir also weismachen, es war reiner Zufall, dass Cobb Scharfschütze war und Sie beide den Special Forces angehört haben? Sie wollen mir weismachen, dass Sie mit meinem Sohn über das Wetter geplaudert haben oder vielleicht auch darüber, dass es die New York Knicks dieses Jahr schaffen werden? Dass er dann aus dem Zug gestiegen ist und den Präsidentschaftskandidaten erschossen hat? Ich … will da nur Klarheit haben.»
Eine Sekunde lang sah ich so etwas wie Mitgefühl in seinen Augen.
«Ich verstehe», sagte er. «Die Wahrheit ist zu hart. Es ist wie mit diesem Kindersarg, diesem Schmuckkästchen. Sie wollen lieber glauben, dass man uns beide auf Ihren Sohn angesetzt hat. Dass wir ihm irgendwie schon seit Monaten auf den Fersen waren, diesem eigenbrötlerischen, durch den Westen irrenden Spinner. Vielleicht haben wir ja bereits in Vassar von ihm gehört, nicht wahr, haben mitverfolgt, wie er alles hingeworfen hat, und haben seinen Namen schnurstracks auf eine Liste potentieller Sündenböcke gesetzt. Und dann haben wir irgendwie … was? Seine Gedanken gelesen? Erkannt, dass er manipulierbar war? Dazu fähig, unter den entsprechenden Umständen gewalttätig zu werden? Die Firma hat also zwei ehemalige Geheimagenten angeheuert, um ihm das Gehirn zu waschen, das Geschoss gleichsam scharf zu machen? Und innerhalb von neunzig Minuten haben wir Ihren Sohn, ihren sanftmütigen, missgeleiteten Sohn, der keiner Fliege was zuleide tun konnte, in einem Güterzug in etwas Böses verwandelt, das Sie nicht mehr als Ihren Daniel erkennen? Ist das Ihre Vermutung?»
Ich biss mir auf die Lippe. Es klang verrückt, aber es war genau das, was ich meinte. Es musste so sein, sonst würde ich verrückt werden. «Ihn erwartet die Hinrichtung», sagte ich.
Er schien zu überlegen. «Lassen Sie es mich so ausdrücken», sagte er. «Selbst wenn es wahr wäre, selbst wenn ich im Zug etwas gesagt hätte, ihm einen Anstoß gegeben hätte – es war nicht so, aber selbst wenn: Was dann? Selbst wenn er nur eine einfache kleine Spielfigur wäre, so hat er doch mitgespielt. Ich will damit sagen, dass auch noch das bestmögliche Szenario ziemlich schlimm aussieht. Sie können einen guten Menschen nicht einfach so dazu bringen, schlechte Dinge zu tun. Sie können ihn in der Zeit, die Sie brauchen, um ein Sandwich zu essen, nicht grundsätzlich umkrempeln. Das ist Science-Fiction. Das Einzige, was uns verändern kann, ist das Leben.»
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Ich will sagen, wenn Sie sich einmal damit abfinden, dass es keinen zweiten Schützen gegeben hat, dass niemand anderes den Abzug gedrückt hat, dann müssen Sie sich der Wahrheit stellen. Der Wahrheit, dass Ihr Sohn ein Mörder ist.»
Ich schwankte auf dem weißen Kachelboden. Meine Beine waren wie aus Gummi. «Nein», sagte ich, «das ist …»
«Hören Sie damit auf», sagte er. «Sie
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