Der Vater des Attentäters (German Edition)
Auseinandersetzung war während der letzten Jahre immer abfälliger und gröber geworden. Wir waren ein zerstrittenes Volk, voller Missgunst und Rachsucht, und in diesem Klima des Misstrauens trat Seagram auf den Plan, ein Mann ohne Arg. Ein Kandidat, der sagte, was er meinte, und seine Kämpfe in aller Öffentlichkeit austrug.
Seagram war ein Mann, der seine Highschool-Liebe geheiratet hatte, Rachel, eine kluge Brünette mit freundlichen Augen, die nun dem Roten Kreuz vorsaß. Wenn die beiden einander ansahen, lag Liebe in ihren Augen. Auf nahezu allen Fotos hielten sie sich gedankenverloren bei den Händen oder küssten einander verstohlen. Aber ihre Ehe hatte eine Tragödie verkraften müssen. Ihr erstes Kind Nathan war mit sechs Jahren bei einem Familienurlaub in Vermont durch dünnes Eis gebrochen und ertrunken. Seagram war danach drei Wochen lang nicht aus dem Bett aufgestanden, hatte nicht gebadet, sich nicht rasiert. Er wollte nichts essen. Als er schließlich aus seiner Trauer auftauchte, entschied er sich, in die Politik zu gehen. Wie er sagte, verspürte er damals das dringende Bedürfnis, etwas «zurückzugeben».
Im Senat wurde er als der «Wohltätigkeits-Senator» bekannt. Die Gesetzesentwürfe, für die er eintrat, dienten vor allem dem Ziel, die Armut im In- und Ausland zu bekämpfen. Er sagte, er werde erst ruhen, wenn es in den Städten keine hungernden Kinder mehr gebe. Dabei blieb er im Herzen der Anwalt, der eine harte Hand gegen das Verbrechen und Bedrohungen aus dem Ausland forderte. Wiederholt stimmte er für eine Ausweitung des Militäretats, wobei er darauf bestand, einen Teil für die Unterstützung von Kriegsheimkehrern zurückzulegen. Er schrieb sich auf die Fahnen, für die Zukunft zu planen und sich nicht nur um Gegenwartsprobleme zu kümmern.
Persönlich war ich hin- und hergerissen gewesen, was Seagram betraf. Die Vorstellung, einen Anwalt im Weißen Haus zu haben, gefiel mir nicht recht. Als Arzt glaubte ich, dass die Zunahme von Prozessen um medizinische Kunstfehler in den letzten zwanzig Jahren der Grund dafür war, warum die Gesundheitsversorgung in diesem Land so teuer geworden war. Aus Angst vor Klagen führten die Ärzte unnötige Tests und Vorsichtsmaßnahmen durch. Wir ließen uns von den Patienten die Behandlungsweise diktieren und hofften, so unsere Versicherungsprämien niedrig zu halten. Im Übrigen ahnte ich, dass Seagram die Steuern erhöhen würde, sollte er an die Macht kommen. Er hatte nie davon gesprochen, aber im Frühjahr des Wahljahres hatte die amerikanische Wirtschaft noch zu kämpfen, und Seagram rief die Menschen im Fernsehen dazu auf, «Verantwortung zu übernehmen», was schon immer bedeutet hatte, größere finanzielle Belastungen zu akzeptieren.
Ich muss allerdings zugeben, dass mir die Rhetorik und das Auftreten des Mannes durchaus gefielen. In einem Meer windelweicher, blasser Kandidaten besaß Seagram echte Größe, er hatte das Charisma eines Vollblutpolitikers. Und auch ich sehnte mich nach Erneuerung.
Nach den ersten Vorwahlen bestand kein Zweifel, dass Seagram der Kandidat der Demokraten werden würde. Er hatte die Abstimmung in Iowa und die Vorwahlen in New Hampshire eindeutig für sich entschieden und war auch der klare Sieger des Super Tuesday. Er war ein Kandidat, der Linke und Gemäßigte ansprach, Demokraten und Republikaner, Junge und Alte. Und so flog er am Morgen des 14. Juni nach Los Angeles, um sich mit Wahlkampfspendern zu treffen und vor Studenten auf dem Campus der Universität zu sprechen.
Seine Frau begleitete ihn. Sie schlief während des Fluges, den Kopf auf seinem Schoß. Ihre beiden Kinder waren zu Hause in Montana geblieben, denn es war ein normaler Schultag. Seagram unterhielt sich kurz vor seiner Rede über Skype mit ihnen. Später sollte ein Helfer, der mit im Raum gewesen war, die Szene in einer überfüllten Kongressanhörung beschreiben. Die Kinder des Senators waren ausgelassen gewesen und hatten Scherze gemacht. Seine Tochter Nora meinte, Daddy sehe müde aus. Sein Sohn Neal las ihm ein Sonett vor, das er in der Schule geschrieben hatte.
Er sagte: He, hör mal, Dad. Eine Kuh und ein Eichhörnchen essen Eis. Die Kuh sagt: ‹Schmeckt’s? Hab ich selbst gemacht.› Das Eichhörnchen sagt: ‹Ich will gar nicht wissen, woher du die Nüsse hast.›
Seagram hatte gelacht und gesagt, er sei am nächsten Morgen wieder zu Hause und werde mit ihnen in den Park gehen. Ich hab euch lieb, fügte er noch hinzu.
Um Viertel
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