Der Vater des Attentäters (German Edition)
Schmerzmitteln. Wir gingen noch einmal die Symptome der Patienten und den Ablauf der Ereignisse durch. Wir überprüften die Entscheidungen von Chefärzten und Assistenzärzten. Dabei ging es nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, aus unseren Fehlern zu lernen. Nur so konnten wir uns verbessern. Als Ärzte wussten wir, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch wir einen verhängnisvollen Fehler begingen. Es lag in der Natur der Sache. Im Verlauf seines Berufslebens behandelt ein Arzt Tausende von Patienten, trifft Tausende von lebenswichtigen Entscheidungen. Wie soll es da möglich sein, immer die richtige Wahl zu treffen? Das Donnerstagsmeeting galt als vertraulich. Nichts von dem, was dort gesagt wurde, durfte vor Gericht verwandt werden. Wie sollten wir andere auch für Fehler bestrafen, die uns selbst jeden Tag unterliefen? Deshalb wurden in Krankenhäusern nur die gröbsten Fahrlässigkeiten bestraft. Wir betrachteten unser Versagen vor allem als Möglichkeit dazuzulernen.
Während ich dort in jenem Raum saß, begann meine Entschlossenheit zu wanken. Was, wenn er es wirklich getan hatte? Was, wenn sie recht hatten und mein Sohn tatsächlich ein Mörder war? Warum sollte er so etwas Furchtbares tun? Aus politischen Gründen? War er krank? Oder war es meine Schuld? Und die seiner Mutter? Hatten wir ihn zerbrochen, seine Kindheit auf folgenschwere Weise zerstört? Es gab zu viele Fragen, zu viele schreckliche Möglichkeiten. So schnell, wie ich diese Tür geöffnet hatte, schlug ich sie wieder zu.
Ich musste zur Ruhe kommen. Alles sorgfältig durchdenken. Ich hatte nicht genug Anhaltspunkte für eine Diagnose. Ich musste mit Daniel sprechen, musste das Beweismaterial sichten. Solange ich das nicht vor mir hatte, wusste ich nur sicher, dass mein Sohn im Publikum gewesen und jetzt in Haft war. Ich würde der Sache auf den Grund gehen. Schließlich war ich jemand, der nichts als selbstverständlich betrachtete, der unvoreingenommen war und sich nicht von seinen Gefühlen leiten ließ. Solange mir nicht unwiderlegbar bewiesen wurde, dass mein Sohn schuldig war, würde ich kein Urteil fällen, sondern sämtliche verfügbaren Fakten sammeln und zu einem wohlüberlegten Schluss kommen. Mein ganzes Leben lang war ich dieser Methode gefolgt.
Es sollte noch Monate dauern, bis ich mir ein vollständiges Bild gemacht hatte.
Einige Politiker haben eine besondere Ausstrahlung. Sie scheinen jeden Raum mit ihrer Anwesenheit zu füllen. Über John Kennedy wurde das gesagt. Über Ronald Reagan und Bill Clinton. Diese Männer (für gewöhnlich handelt es sich um Männer) sind bei allem, was sie tun – so banal es auch sein mag –, ungeheuer präsent und konzentriert. So haben mir Freunde, die Clinton getroffen haben, erzählt, sie hätten noch nie mit jemandem gesprochen, der ihnen so sehr jedes Wort von den Lippen abgelesen und seine völlige Aufmerksamkeit geschenkt habe wie er, obwohl es sich nur um eine flüchtige Begegnung gehandelt hatte. Seine Beachtung hat sie überwältigt, verwirrt und, wenn auch nur für Sekunden, ins Zentrum eines wunderbaren Universums gerückt, von dem sie gleich mehr wollten.
Jay Seagram war ebenfalls solch ein Mann. Er war Bundesanwalt, bevor er in die Politik ging, ein Kreuzzügler gegen das Verbrechen, ob es nun von einer Einzelperson oder einem ganzen Unternehmen begangen wurde. Als Kind einer alleinerziehenden Mutter wuchs er in ärmlichen Verhältnissen auf. Doch bereits mit vierunddreißig gewann er seinen ersten Sitz im Senat. Er war ein Meter fünfundachtzig groß und gutaussehend, hatte das Lächeln und die Stimme eines Baptistenpredigers, und seine jahrelange Erfahrung mit Geschworenenprozessen hatte ihn gelehrt, dass der Vortrag selbst ebenso wichtig war wie das, was er mitzuteilen hatte. Nach sechs Jahren im Senat stieg er in die demokratische Führungsspitze auf. Seagram besaß außerdem Humor, er war ein Mann, in dessen Gegenwart sich die Leute wohlfühlten. Unter lauter aufgesetzt lächelnden Gesichtern strahlte er Ehrlichkeit und Substanz aus, und als er seine Kandidatur für die Präsidentschaft verkündete, war es, als würde überall im Land ein Schalter umgelegt. Als schalteten sämtliche Ampeln auf den großen Straßen der Städte auf Grün.
Frischer Wind kam auf. Hoffnung.
Viele Menschen im Land, Demokraten wie Republikaner, hatten das Land straucheln sehen. Sie glaubten, Regierung und Verwaltung säßen voller Lügner. Der Ton der politischen
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