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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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hatte einen Rucksack voller Kleidung, Spiele und Comics dabei – lauter Dinge, die ich eingepackt hatte, um ihm den langen Flug zu verkürzen. Auf den Bildschirmen lief Titanic , was eine seltsame Wahl war für eine Reiseart, bei der Gebete und das temporäre Wiedereintreten in die Gemeinschaft der Gläubigen gang und gäbe sind. Die Turbulenzen setzten über Ohio ein, mit einem heftigen plötzlichen Durchsacken, als fiele das Flugzeug von einem Felsvorsprung. Der Kapitän schaltete die Anschnallsignale ein und forderte die Flugbegleiter auf, sich auf ihre Sitze zu begeben und ebenfalls anzuschnallen. Er versuchte eine ruhigere Flughöhe zu finden. Ein zweiter heftiger Ruck traf das Flugzeug, dann ein dritter. Der vierte ließ mehrere Gepäckfächer aufspringen, Taschen und Gegenstände fielen heraus, Getränke wurden vergossen. Ein Passagier wurde vom Laptop einer Frau am Kopf getroffen, und ein erster Schrei war zu hören.
    Vor den Fenstern sahen die Passagiere Blitze zucken. Regen prasselte auf die Tragflächen und gegen den Rumpf. Das Licht flackerte und verlosch. Die Stromversorgung war zusammengebrochen. Aus dem Cockpit ertönten Warnsirenen, das Flugzeug raste außer Kontrolle in die Tiefe, im freien Fall. Wie musste sich das anfühlen? Vom Himmel zu stürzen? Dieses entsetzliche, schwerelose Wegsacken? Die Gewalt der Geschwindigkeit? Ein Flugzeug ohne Vortrieb stürzt wie ein Fels durch den Raum. Die Menschen in der Kabine schrien nun alle durcheinander. Sie beteten und bettelten.
    Vorne im Cockpit kämpfte der Flugkapitän darum, die Maschine aufzufangen. Sein Copilot war wie gelähmt. Der Kapitän wusste, ihm blieben nur noch Sekunden. Ohne Strom würde er das Flugzeug niemals in der Luft halten können. Die einzige Chance bestand darin, alles auszuschalten, die Triebwerke neu zu starten und darauf zu hoffen, dadurch auch die Elektrik wieder in Gang zu setzen. Es war ein irrsinniges Risiko. Wenn sie erst einmal aus waren, sprangen die Motoren vielleicht nicht wieder an. Der Boden war höchstens noch sieben bis zehn Minuten entfernt. Also bellte der Kapitän seiner Mannschaft die entsprechenden Befehle zu, sprach ein kurzes Gebet und schaltete die Triebwerke aus.
    Mein Sohn saß in der Kabine und hielt die Armlehnen gepackt. Zu seinem achten Geburtstag hatten wir bei Carvel einen Kuchen geholt und waren in der Spielhalle Rennen gefahren. Der Zuckerguss vom Kuchen hatte Dannys Lippen blau gefärbt, wie die eines Toten, was ihn wie einen winzigen, blassen Zombie aussehen ließ. Danny fand das komisch, und ich musste ebenfalls lachen. Ich war den Anblick des Todes gewöhnt, ich war nicht abergläubisch. Ich kannte den Unterschied zwischen einem lebenden Kind mit blauen Lippen und einer Leiche.
    Daniel hatte von seiner Mutter ein Skateboard bekommen und von mir einen Experimentierkasten. Er wirkte glücklich, und es schien ihm nichts auszumachen, dass seine Mutter und sein Vater sich nicht ausstehen konnten und fünftausend Kilometer Abstand benötigten, um ein zivilisiertes Telefongespräch miteinander führen zu können. An diesem Abend ging er sehr spät ins Bett, mit klebrigen Fingern und ohne sich auszuziehen. Er sagte mir, wie glücklich er sei. Aber stimmte das auch? Oder hatte er bereits angefangen, mir zu erzählen, was ich hören wollte?
    Jetzt, siebentausendfünfhundert Meter über Ohio und im freien Fall, klammerte sich mein Sohn an die Armlehnen eines toten Flugzeugs und fiel wie ein Papierball Richtung Mülleimer. Im Cockpit zählte der Kapitän bis fünfzehn und legte die Schalter zum Neustart der Maschinen um. Einen Moment lang geschah nichts. Seine Gebete blieben ungehört. Mannschaft und Passagiere waren verloren. Aber dann erwachte das rechte Triebwerk zum Leben, gefolgt vom linken. Das Licht flackerte, einmal, zweimal, und der Strom war wieder da. Der Kapitän und sein Copilot holten das Flugzeug gemeinsam und mit großer Mühe aus seinem Sinkflug. Die Welt stabilisierte sich, und nach und nach verebbten die Schreie in der Kabine. Ungläubiger Applaus kam auf.
    Hatte auch mein Sohn applaudiert? Hatte er geweint? Ein kleiner Junge allein im Angesicht des Todes. Hatte er sich übergeben müssen oder in die Hose gemacht? Ich erfuhr von dem Unfall in den Spätnachrichten. Über dem Mittleren Westen sei ein Flugzeug außer Kontrolle geraten. Mit wild schlagendem Herzen rief ich Daniels Mutter an, die mir sagte, mit ihm scheine alles in Ordnung zu sein. Das Flugzeug sei planmäßig gelandet, und

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