Der Vater des Attentäters (German Edition)
auf ihre Frage, wie der Flug gewesen sei, habe er nur gesagt: «Lang.» Ich konnte damals die ganze Nacht nicht aufhören zu weinen. Ich war völlig überwältigt von dem Gedanken, mein einziger Sohn hätte sterben können. Mein armer Junge.
Jetzt sah ich zu den Lichtern tief unter mir und stellte mir vor, wie er in diesem Moment mit Handschellen in seinem Krankenhausbett lag, eine Kugel im Bein und wegen eines Verbrechens in Gewahrsam, das er nicht begangen haben konnte. Empfand er nun die gleiche Angst? Oder war sie größer? Wuchs mit dem Alter die Angst vor dem Tod? Nach jenem Flug hatte ich geschworen, ihn nie wieder allein fliegen zu lassen.
In den nachfolgenden Monaten hatten wir Daniel ermuntert, über seine Gefühle zu reden. Aber er wollte nichts davon wissen. Er gab gerade noch zu, dass es «schon unheimlich» gewesen sei, als das Flugzeug so einfach wegsackte, aber er sei vollauf damit beschäftigt gewesen, Jenny zu beruhigen, die neben ihm «total durchdrehte». Wie heldenhaft er mir da erschienen war, mein Junge, der trotz des Drucks ruhig blieb und auch noch an andere dachte. Ich war stolz auf ihn gewesen, hatte es gewissermaßen als mein Verdienst empfunden, ein so starkes, unerschütterliches Kind aufgezogen zu haben.
Aber jetzt fragte ich mich, ob auf jenem Überlandflug wohl noch etwas anderes geschehen war. Etwas Einschneidendes. War ihm im Angesicht des sicheren Todes seine Verlassenheit bewusst geworden? Hatte er, als das Flugzeug auf die Erde zuraste, auf grundlegende Weise verstanden, dass er in seinem Leben allein war und ihn seine Eltern, die ihn doch vor den Gefahren der Welt schützen sollten, ins Leere geworfen hatten? Hatte sich in dem achtjährigen Jungen in diesem Moment etwas verhärtet, das noch weich und voller Hoffnung hätte sein sollen? War durch dieses Ereignis ein Blick auf die Welt entstanden, der meinen Sohn von den Menschen entfernt hatte, denen er sich eigentlich hätte verbunden fühlen sollen? Hatte er deswegen schließlich auch das College verlassen und war rastlos umhergezogen? Hatte er sich deswegen so selten gemeldet? Hatte ich ihn in jenem Moment verloren?
Und falls es so war: Wie hatte ich so blind sein können, es nicht zu bemerken?
Wir landeten um drei Uhr morgens. Als ich aus dem Terminal trat, empfing mich die schmutzige Luft der Autoabgase. Ich winkte ein Taxi heran und nannte dem Fahrer die Adresse. Schweigend fuhren wir durch die gelb beleuchteten Straßen der Stadt. In den Achtzigern hatte ich hier meine Zeit als Assistenzarzt verbracht, im Saint John’s Health Center in Santa Monica. Dort hatte ich auch Ellen kennengelernt, auf der Party eines anderen Assistenzarztes. Sie war das grünäugige Mädchen auf dem Balkon, das einen Joint rauchte. Ich war im zweiten Jahr meiner Assistenzzeit, hatte sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen und trug immer noch meinen Arztkittel.
«Ich wusste gar nicht, dass das hier ein Kostümfest ist», sagte sie.
«Ist auch nicht», sagte ich. «Ich bin Arzt.»
Sie hatte den provozierenden Körper einer frechen jungen Frau.
«Ich wette, den Satz hast du vor dem Spiegel geübt», sagte sie. Sie bot mir ihren Joint an, ich schüttelte den Kopf.
«Also ich bin keine Ärztin», sagte sie, «dafür aber Hypochonder.»
«Was für eine geniale Kombination», erklärte ich.
Ellen war Fotografin, arbeitete aber in einem Bekleidungsgeschäft. Sie war in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt in Berkeley aufgewachsen, mit Leinsamen und Johannisbrot, und schwärmte für die kommunistische Workers Party, bis ihr Vater Bertrand ihre Mutter Molly wegen der Hennessy-Schwestern verließ und damit endgültig bewies, dass die «freie Liebe» nur ein weiterer Vorwand für die Männer war, ihren Schwänzen zu folgen.
Die neunjährige Ellen zog mit ihrer Mutter in eine Wohnung in Glendale. Zum Frühstück gab es Schokoriegel, und den Tag verbrachten sie vor dem Fernseher, antriebslos, gelangweilt. Ellens Mutter zeigte wenig Interesse daran, Arbeit zu finden oder ihre Tochter zum Lernen anzuhalten. Wenigstens zweimal pro Woche erfand sie eine Ausrede dafür, dass Ellen nicht in die Schule musste, weil sie selbst nicht allein sein wollte.
Da Molly sich für eine experimentelle Künstlerin à la Gertrude Stein hielt, wollte sie die künstlerische Seite ihre Tochter fördern. Aber was sie ihr beibrachte, waren manierierte Nichtigkeiten, die nichts mit wirklicher Arbeit zu tun hatten, und so entwickelte Ellen nie die Art von
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