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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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getroffen.
    Jeden Tag hatte ich die Zeitungen nach neuen Einzelheiten durchsucht. Wer war der geheimnisvolle Mann, mit dem mein Sohn gekämpft hatte? War er der Todesschütze? Und wenn nicht, wenn er nur ein unbeteiligter Zuschauer gewesen war, warum meldete er sich dann nicht?
    Ich konnte immer noch nicht glauben, dass mein Sohn ein Mörder war, aber ich musste mir eingestehen, dass ich meinen Zugang zu ihm verloren hatte. Nachdem er von zu Hause ausgezogen war, musste er vereinsamt gewesen sein und hatte offenbar mit sich und seiner Situation zu kämpfen gehabt. In den Wochen nach seiner Verhaftung wandte ich mich in Gedanken immer wieder seiner Kindheit zu. Was hatte ich, sein Vater, falsch gemacht, dass er so werden konnte, wie er war? Was hätte ich anders machen können?
    Ich saß am Küchentisch, trank Tee und lauschte den Geräuschen des Hauses. Die Warmluftheizung sprang an, der Kühlschrank summte. Meine Kniegelenke knackten, als ich aufstand, um meine Tasse auszuspülen. So war es, wenn man alt wurde. Der Körper, der einem ein Leben lang wie ein sicheres, bequemes Zuhause vorkam, wendete sich gegen einen. Er konnte die innere Temperatur nicht mehr halten. Seit sechs Monaten schon war mir ständig kalt, ich war zu einem Pulloverträger geworden, und die Kinder beklagten sich, weil ich den Thermostat ständig auf zweiundzwanzig Grad stellte. Ich verwandelte mich in meinen Großvater.
    Die ersten Wochen nach Dannys Verhaftung waren in einem Wirbel fieberhafter Aktivitäten vergangen. Fran und ich hatten die Fragen aller nur denkbaren Exekutivorgane beantwortet. Wir hatten auf Pressekonferenzen gesprochen und Erklärungen herausgegeben. Wir hatten der Welt mitgeteilt, dass wir die Ermordung von Senator Seagram für eine verabscheuungswürdige Tat hielten und aufrichtig mit seiner Familie trauerten. Aber dass wir auch unseren Sohn liebten. Und dass wir ihn für unschuldig hielten. Wir seien im Übrigen davon überzeugt, dass ihn auch die Geschworenen für unschuldig halten würden, und könnten nur hoffen, dass Seagrams tatsächlicher Mörder bald schon gefasst und für seine Tat bestraft werde.
    Darüber hinaus lehnte ich die Interviewanfragen aller großen Nachrichtensendungen ab. Fran unterstützte mich dabei. Wir wollten verhindern, dass unsere Familie zu einem Zirkusobjekt wurde. Wir hatten schließlich noch zwei Kinder, die es zu beschützen galt und die nicht zur Schule gehen konnten, ohne von Reportern belästigt zu werden. Fran nahm die beiden aus der Schule und begann sie zu Hause zu unterrichten, gerade so, wie es die Bücher auf dem Regal hergaben, und so viel Mathe, «wie Mom noch verstehen kann».
    Fran hatte sich noch kein einziges Mal über den Druck beklagt, der auf unserer Familie lastete, allerdings hatte ich sie manchmal im Badezimmer weinen hören. Meist spät am Abend. Aber sie hielt die Tür geschlossen, und ich wollte sie nicht dabei stören, wenn sie allein sein wollte, also klopfte ich nicht und sprach sie nicht darauf an.
    Ich stand wie gewohnt jeden Tag auf und fuhr mit dem Zug in die Stadt. Ich brauchte meine Arbeit mehr denn je, machte meine morgendliche Visite und oft auch abends noch eine, hörte Patienten ab und studierte Röntgenaufnahmen. Aber ich war nicht richtig bei der Sache. Ich sah nicht mehr wie vorher die Zusammenhänge und brachte mehr und mehr Zeit damit zu, mit den Patienten über ihre Familien zu sprechen. Ich wollte glückliche Geschichten hören, Fotos gezeigt bekommen: Hier, das ist mein Sohn, der Arzt ist. Mein Sohn, der Anwalt . Ich wollte Positives sehen, Kinder, die zu tollen Menschen heranwuchsen.
    Meinen Patienten war zum großen Teil nicht bewusst, dass ich nicht nur ihr Arzt, sondern auch der Vater eines weltweit bekannten Kriminellen war. Sie klagten über Rückenschmerzen und Herzgeräusche und begriffen nicht, mit wem sie da eigentlich sprachen. Sie breiteten die Tragödie ihres Lebens vor mir aus, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verlieren, welche Geschichten ich wohl zu erzählen hatte, und wenn mich doch einmal ein Patient erkannte, versuchte ich schnell das Thema zu wechseln und das Gespräch von meinem Sohn abzulenken. Das war nicht schwer, denn als Kranker kreist man immer auch um sich selbst. Wenn wir leiden, Schmerzen oder Angst haben, wenden wir uns nach innen. Mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, interessieren wir uns nicht mehr für die täglichen Dramen dieser Welt.
    Anders verhielt es sich mit meinen Kollegen. Männliche und

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