Der Vater des Attentäters (German Edition)
Menschen.
Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, durchforstete ich die Zeitungen nach neuen Hinweisen. Ich schnitt alle Artikel über Danny aus und sammelte sie in einem Ordner, verbrachte Stunden online auf der Suche nach Details, nach Zeugenaussagen, nach allem, was ein neues Licht auf die Geschehnisse jenes Tages werfen konnte. Ich baute ein regelrechtes Archiv auf und wurde zum Chronisten dieses Falls. Jedes neue Einzelheit wurde katalogisiert, und wenn es etwas Aussagekräftiges war, rief ich Murray an und riss ihn notfalls aus dem Schlaf.
«Mein Gott, Allen», sagte er dann. «Es ist Viertel vor drei. Rufen Sie mich morgen an. Ich hab hier ’ne Lady, für die ich noch fünfzehn Minuten bezahlt habe.»
Wann immer ich auf ein Bild oder eine Aussage stieß, die Zweifel an der offiziellen Version aufwarf, schickte ich Murray eine SMS oder eine E-Mail. Erst antwortete er jedes Mal ausführlich, mit der Zeit jedoch wurden seine Antworten knapper und verdichteten sich am Ende zu einem einzigen Wort: «Interessant.»
Ich hatte ihm auch den Times magazine -Artikel geschickt, in dem von Dannys Gerangel mit einem anderen Mann die Rede war. Oben auf das Blatt hatte ich geschrieben: «Können wir den finden???»
Murry ging der Sache nach, rief den Reporter an, der den Artikel geschrieben hatte, und kontaktierte die Augenzeugen. Er förderte aber keine weiteren Einzelheiten zutage, nur dass der Mann groß gewesen sei und ein dunkles Jackett getragen habe.
Die ersten Verschwörungstheorien waren schon bald nach dem Attentat aufgekommen. Seagram war Vorsitzender des Haushaltsausschusses gewesen. Die Wochen vor seinem Tod hatte er damit zugebracht, Stimmen für ein Gesetz zu sammeln, das die Regierung dazu gezwungen hätte, die Militärausgaben um dreißig Prozent zu senken. Das Gesetz sah ferner vor, dass ein Sonderermittler die privaten Sicherheitsfirmen durchleuchtete, die durch die militärischen Unternehmungen der USA reich wurden. Der Gesetzentwurf hätte das Ende privater Kriegsprofite bedeuten können. Aber dann wurde Seagram ermordet. Eine Woche nach dem Attentat kam der Gesetzesentwurf zur Abstimmung – fiel durch, und an seiner Stelle wurde ein anderer angenommen, der eine weitere Billion an Militärausgaben vorsah. Klar , schrieben Blogger, die Regierung hat ihn umbringen lassen, um ihre Kriegsgeschäfte weiterzutreiben. Oder es war der militärisch-wirtschaftliche Komplex selbst, der nicht wollte, dass ihm der Geldhahn zugedreht wurde.
Dann meldete sich ein Unteroffizier der Army zu Wort, Corporal Walter Hannover, der schwor, Danny drei Monate vor dem Attentat in einer geheimen militärischen Basis in der Wüste von New Mexico gesehen zu haben. Er selbst sei dort Wachmann in einer streng geheimen Trainingseinrichtung für Sondereinheiten gewesen und habe gesehen, wie Danny im März in die Basis gebracht worden sei. Dort sei mein Sohn in der Handhabung kleiner Waffen und in strategischer Unterwanderung unterrichtet worden. Hannover behauptete, Danny mindestens sechsmal in drei Monaten gesehen zu haben. Die Aussage wurde von einigen überregionalen Zeitungen aufgegriffen und durchs Radio hinausposaunt. Die Army stritt ab, dass es eine solche Basis überhaupt gebe. Hannover willigte in einen Lügendetektortest ein, aber die Ergebnisse waren zu wenig eindeutig. Dann gab die Army Hannovers Akte heraus, und die Öffentlichkeit erfuhr, dass er nicht nur nie auf einer Basis in New Mexico gedient hatte, sondern unehrenhaft von seinem Posten in Fort Stockton entlassen worden war, weil er Benzin schnüffelte, das er aus dem Fahrzeugpool entwendet hatte.
Dann kamen wiederum Stimmen auf, die meinten, Hannovers Unterlagen seien manipuliert worden, um die Wahrheit zu vertuschen, doch die seriösen Medien schlossen das Kapitel an diesem Punkt. Wie alle anderen Daten zum Fall hatte ich auch diese Artikel sorgfältig ausgeschnitten und die entsprechenden Online-Seiten mit Lesezeichen versehen. Ich schrieb «New Mexico?» auf eine Seite in meinem Notizbuch.
Es war, als würde ich eine Krankenakte anlegen. Jedes Symptom wurde katalogisiert, jedes Untersuchungsergebnis. So versuchte ich meine Differentialdiagnose aufzubauen.
Im August las ich in der Washington Post , dass es im Justizministerium in einem Raum, in dem Beweismittel lagerten, gebrannt habe. Mehrere Kartons Beweismaterial zu verschiedenen laufenden Verfahren seien dabei zerstört worden. Daraufhin begann ich fast schon besessen, regelmäßig Sicherheitskopien
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