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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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Gleichgewichtssinn. Noch war kaum etwas davon zu spüren, aber in zehn Jahren brauchte ich womöglich Hilfe beim Einfädeln eines Fadens.
    Ich ging in die Küche, ohne das Licht anzuschalten, tastete mich dem Gedächtnis nach zum Kühlschrank und überlegte, ob ich ein Glas Milch trinken sollte. Meine Knochen verloren mit jedem Moment mehr Kalzium. Ich nahm täglich Vitamintabletten und trank mehr Milch als in meiner Kindheit und Jugend. Es war eine schwache Behelfsmaßnahme, um das Unvermeidliche hinauszuzögern.
    Die Tage, an denen ich einfach eine Trainingshose anziehen und durch die Nachbarschaft joggen konnte, waren unwiderruflich vorbei. In den Wochen nach dem Attentat hatte uns die Presse nicht in Ruhe gelassen. Wir wurden fortwährend bedrängt. Jemand zerstörte unseren Briefkasten, mein Auto wurde mit Farbe besprüht. Wir hatten zwar eine neue, geheime Telefonnummer bekommen, trotzdem riefen Leute an, die, schwer atmend oder knurrend, ihre Hassreden und Morddrohungen loswerden wollten. Zu Beginn der Vorverhandlungen hatte sich die Zahl der Kamerateams vor unserem Haus verdoppelt. Sie wollten wissen, wie wir uns fühlten. Wie wir den Druck aushielten. Ob wir mit unserem Sohn gesprochen hatten. Schließlich mussten sie ihre Sendung vollkriegen. Das Fernsehen liebte Geschichten, die das Leben schrieb. Auch jetzt, wenn ich zu dieser frühen Stunde durch die Vorhänge spähte, würde ich mit Sicherheit einen Kamerawagen mit laufendem Motor sehen, in dem gelangweilte Reporter hockten, die darauf warteten, dass irgendetwas Unerwartetes geschah.
    Zehn Jahre, nachdem zwei Highschool-Schüler dreiunddreißig Mitschüler an der Columbine Highschool niedergeschossen hatten, brach Susan Klebold, die Mutter von einem der Mörder, ihr Schweigen. Sie schrieb: «Während dieser ganzen Zeit empfand ich eine extrem große Scham. Monatelang habe ich es vermieden, öffentlich meinen Nachnamen zu verwenden. Auf der Straße bin ich jedem Blick ausgewichen. Dylan war das Ergebnis meiner Erziehung, meines Lebens, aber seine Taten zeigten, dass ihm niemand den Grundsatz von richtig und falsch beigebracht hatte.» Sie fragte: «War ich zu streng gewesen? Nicht streng genug?» Jedesmal, wenn sie ein Kind in einem Supermarkt sehe, müsse sie daran denken, «wie die Schulkameraden meines Sohnes die letzten Augenblicke ihres Lebens verbracht haben. Dylan hat all meine Gewissheiten erschüttert, die ich einmal gehabt habe, über mich, Gott, die Familie und die Liebe.»
    Ich saß in der Küche und lauschte dem Ticken der Uhr, mit dem die Sekunden einer weiteren schlaflosen Nacht verstrichen. In den Wochen nach dem Attentat waren immer neue Einzelheiten veröffentlicht worden: Zeugenaussagen, Fotos, Videos. Ich hatte jetzt ein klareres Bild davon, was in den Augenblicken vor und nach den Schüssen in Royce Hall geschehen war. Einen eindeutigen, unwiderlegbaren Beweis dafür, dass mein Sohn der Schütze gewesen war, gab es immer noch nicht. Es war ja recht dunkel gewesen im Zuschauerraum, während Seagram im Scheinwerferlicht stand. Die Fotos, die ich gesehen hatte, waren deshalb bestenfalls düster und verwischt. Die Videos waren klar, solange die Kameras auf die Bühne gerichtet waren. Sobald das Publikum ins Bild kam, wurden sie körnig, und es war nur noch schwer etwas zu erkennen.
    Ballistische Untersuchungen hatten bestätigt, dass die Waffe, die Daniel in der Hand gehalten hatte, die Tatwaffe war, aber die New York Times vom 23. Juni zitierte zwei Augenzeugen (Alice Harder, vierunddreißig Jahre, und Benjamin Sayid, neunzehn Jahre), die von einem Gerangel zwischen zwei Männern direkt nach den Schüssen berichteten. Der eine Mann habe ein weißes Hemd getragen, von dem anderen gab es keine Beschreibung, und er hatte sich auch nie gemeldet, um eine Aussage zu machen.
    Danny hatte bei seiner Verhaftung ein weißes Hemd getragen.
    Wer war der andere Mann gewesen?
    Sechs Tage nach dem Attentat druckte das Time magazine jenes Foto, von dem Murrays Kontaktmann beim FBI erzählt hatte. Wenn auch unscharf, zeigte es doch eindeutig Danny mit einer Pistole in der Hand. Er weicht darauf zurück, weil ein Agent des Secret Service mit beiden Händen seinen Arm packt. Danny und der Agent werden teilweise von den Umstehenden verdeckt. Der Agent scheint außer sich und stößt, seinem Ausdruck nach zu urteilen, einen Schrei aus. Dannys Miene zeugt von Angst und Schmerz, was nicht verwunderlich ist, schließlich hatte ihn gerade ein Schuss ins Bein

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