Der Vater des Attentäters (German Edition)
das Bad voller Kreuze, eines hatte sie sogar im Spülkasten der Toilette versteckt, und auf der Fensterbank saßen etwa hundert Stofftiere, die uns beim Vögeln zugesehen haben.»
«Wie lang waren Sie mit ihr zusammen?»
«Etwa drei Wochen», sagte er. «Ich fand sie zu Beginn einfach nett, wenn auch ein wenig verrückt. Sie hatte einen Abschluss in Philosophie von der NYU . Und dann komme ich eines Abends und will sie abholen, und sie hat sich die Haare abgeschnitten und sagt, sie heiße Sally. Dabei hieß sie Jean. Sie hatte eine Schüssel Pillen mit Milch verputzt, wie ein Müsli. Ich habe sie in die Notaufnahme gebracht, und die haben sie sediert und in eine Abteilung für psychisch Kranke gesperrt. Ich habe sie noch ein paarmal besucht und dann meine Telefonnummer geändert. Ich meine, wie verhält man sich in so einer Situation? Wir waren nicht verheiratet. Sie war einfach nur ein Mädchen, mit dem ich ein paarmal geschlafen hatte und das Kreuze im Klo aufbewahrte.»
In den Pappkisten war nichts Bedeutendes. Gestohlene Bücher aus einer Bibliothek, ein paar Töpfe und Pfannen. In einem Müllbeutel voller Kleidung fand ich ein Projektil.
«Sehen Sie sich das an», sagte ich.
Murray kam dazu. «Nehmen Sie das Ding mit. Das lassen wir ballistisch untersuchen.»
Ich sah mich nach etwas um, worin ich es aufbewahren konnte, dann kam es mir dumm vor. Was befürchtete ich denn? Ein Beweisstück zu verunreinigen? Ich war schließlich kein Polizist. Würde überhaupt irgendjemand glauben, dass ich, der Vater des Angeklagten, o Wunder, in der Wohnung eines anderen Mannes die entlastende Kugel gefunden hatte? Vielleicht weil ich sie in einer Plastiktüte präsentierte? Ich steckte die Kugel in meine Jackentasche. Murray ging zurück in die Küche. Draußen konnten wir ein paar Jungs Basketball spielen hören, das Rutschen der Schuhe, das Geräusch des Balls, der vom Ring abprallte.
«Bingo», rief Murray.
Ich stand auf und ging zu ihm. In einer Schublade lag ein ordentlich ausgeschnittener Zeitungsartikel. Mit einem Bild von Danny. Die Schlagzeile lautete: «Mutmaßlicher Attentäter wird nächste Woche angeklagt.»
Ich starrte das Foto meines Sohnes an. Was bedeutete das? Hatte Cobb den Artikel ausgeschnitten, weil er mit dem Mord zu tun hatte, oder nur, weil er in meinem Sohn den Mann erkannt hatte, mit dem er vor sechs Monaten im Zug gefahren war?
Murray nahm sein Handy und machte ein Foto von dem Artikel in der Schublade. Dann ging er durch die Wohnung und fotografierte jeden Müllsack und jede Kiste. Er kniete sich hin und machte auch ein Bild von der Matratze, deren eine Ecke komisch an der Wand hoch stand. Im Bad sah er zuletzt noch in den Spülkasten der Toilette. Ich steckte die Hand in die Tasche und befühlte das gewichtige Projektil. Etwas an diesem Ort stellte mir die Härchen auf den Armen auf.
«Was jetzt?», fragte ich.
Murray kam aus dem Bad. «Wie lange haben wir noch bis zur Verlesung der Anklageschrift?»
Ich sah auf die Uhr. «Uns bleiben neunzig Minuten», sagte ich.
Murray setzte sich auf einen der drei Stühle und überlegte. «Der Kerl hat einen Artikel über den Fall ausgeschnitten …», sagte er.
«Das heißt nicht automatisch, dass er etwas damit zu tun hat», antwortete ich, aber gleichzeitig überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf.
«Ich werde die Kugel einem Experten schicken», sagte Murray. «Vielleicht lässt sich eine Verbindung zu der Mordwaffe herstellen.»
Ich setzte mich neben Murray. Wie sehr sich ein Fall wie dieser doch von einem medizinischen Fall unterschied. Der menschliche Körper war immerhin eine begrenzte Größe mit einer überschaubaren Anzahl von Systemen. Es gab zwar viele äußere Faktoren – Umwelteinflüsse, die Belastung durch chemische Stoffe, Drogenmissbrauch, Alkoholmissbrauch, die Ernährung und natürlich von außen aufgenommene Erreger –, aber die Antworten fanden sich immer im Körper selbst. Im schlimmsten Fall, wenn sich die Krankheit als nicht diagnostizierbar und damit unbehandelbar erwies, konnte nach dem Tod noch eine Autopsie vorgenommen werden, um die Todesursache zu ergründen. So stieß man am Ende auf die Lösung des Rätsels.
In einem Mordfall dagegen war es bereits schwer zu entscheiden, was überhaupt als ein relevantes Faktum angesehen werden konnte. Ein Mann fährt in einem Zug. Er ist mit allen möglichen Waffen vertraut. In seiner Wohnung liegt ein Zeitungsartikel, der den Anschein erwecken könnte, dass er mit
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