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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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aus seinen Träumen erwachte. Er zog die Schreibtischschublade auf, legte sein Schreibzeug hinein und machte sich bereit für einen seelsorgerischen Nachmittag bei den ehemaligen Verkäuferinnen der Liebe, deren verstümmelte Seelen er tröstete. Den Schirm in der einen und den Treacle Cake in der anderen Hand, verließ er das Haus, denn den heidnischen Trost, den sein Ingwerbrot zu spenden vermochte, hatte er schon vor langer Zeit erkannt.
    Der Regen war mit einer solchen Macht gegen die Tür des Rack & Ruin geprallt, dass er unter ihr durchgedrungen war und sich nun wie eine Blutlache auf den ausgetretenen Steinplatten ausbreitete. Nicht dass Ruby Dore das bemerken würde. Die Wirtin, die alleine war, seit die Mittagsgäste endlich das Trinken eingestellt hatten, schaute in den Käfig am Ende der Bar und versuchte, ihren Kanarienvogel zum Singen zu bewegen. Der Vogel litt an chronischer Platzangst, seit er nach jenem spektakulären Ohnmachtsanfall im Spülwasserbecken gelandet war. Trotz aller Versuche – von Schmeicheleien über Erpressung bis hin zu Drohungen hatte sie alle Mittel ausgeschöpft – war ihm nicht einmal die bescheidenste Melodie zu entlocken. Und sehr zu Ruby Dores Unwillen litt der Vogel jetzt auch noch an dem, was man euphemistisch »die Renneritis« nannte. Das kam von all den Leckereien, die ihm die Beefeater zusteckten, um ihn zum Singen zu bewegen und sich selbst in der Folge ein Freibier zu sichern. Papierservietten wurden auseinandergefaltet und diverse Inhalte freigelegt: Teigränder von Fleischpasteten, Reste vom Weihnachtspudding, die man hinten im Kühlschrank entdeckt hatte, alte Hackfleischtaschen. Aus dem Käfig war aber stets nur ein Flattern des gelben Gefieders zu hören, gefolgt von einem wenig damenhaften Platschen.
    Ruby Dores zimtfarbener Pferdeschwanz fiel ihr den Rücken hinab, als sie die vollen Lippen fast an die Gitterstäbe presste und ein letztes Mal eine Abfolge willkürlicher Töne pfiff, die niemand mit musikalischem Verstand je so kombinieren würde, aber der Vogel blieb stumm. Sie versuchte, sich von ihrem Versagen abzulenken, und machte sich daran, die Wandvitrinen mit den Beefeater-Devotionalien abzustauben. Die Sammlung hatte ihr Vater begonnen, der ehemalige Wirt, der sich mit seiner zweiten Frau nach Spanien zurückgezogen hatte, weil er so viele Bartträger auf einem Haufen nicht mehr hatte ertragen können. Die Vitrinen enthielten Hunderte von Beefeater-Figuren, Beefeater-Aschenbechern, Beefeater-Gläsern, Beefeater-Krügen, Beefeater-Fingerhüten und Beefeater-Glocken – alles, auf das man das berühmte Bild eines stark behaarten Gentlemans in roter Galauniform einschließlich Rosetten an Schuhen und Knien drucken konnte.
    Das Rack & Ruin war Ruby Dores einziges Zuhause gewesen, seit sie aus ihrer Mutter herausgerutscht, ihrem Vater zwischen den zitternden Fingern durchgeflutscht und dann kopfüber auf dem Linoleumboden oben in der Dienstwohnung der Familie gelandet war. In der Nacht, in der Ruby auf die Welt kommen sollte, saß der Tower-Arzt unten in der Bar und hatte sich längst der Sucht ergeben, die sein Leben ruinieren sollte. Als er höflich darüber informiert wurde, dass bei der Frau des Wirts die Wehen eingesetzt hätten, winkte er ab. »Die hat noch viel Zeit«, sagte er und wandte sich wieder der Partie Monopoly zu, an der er seit über zwei Stunden mit einem Beefeater saß. Der Mann war der einzige Tower-Bewohner, den der Allgemeinmediziner noch nicht geschlagen hatte, und zwar schlicht und ergreifend, weil er noch nie gegen ihn gespielt hatte.
    Dieses Reich beherrschte der Arzt uneingeschränkt. Während Beefeater um Beefeater im Gefängnis schmachtete, eilte er übers Spielbrett und kaufte in einer monströsen Anwandlung von Gier sämtliche Immobilien auf. Sobald er alle Eigentumsurkunden einer Farbe besaß, verdoppelte er die Miete und hielt, ohne rot zu werden, die Hand auf, wenn sein Gegenspieler auf diesen Feldern landete. Manch einer hielt diese Strategie für unrechtmäßig, aber als man nach den Spielregeln suchte, waren sie angeblich verloren gegangen. Nicht wenige glaubten, der Arzt habe sie versteckt. Die Gemüter in der Festung gerieten derart in Wallung, dass man den Spielehersteller als Schiedsrichter anrufen musste. Der schickte einen Brief, in dem er erklärte, dass die Methoden des Arztes nicht gegen die heiligen Regeln des Spiels verstießen.
    Der Allgemeinmediziner, der sich soeben The Strand, Fleet Street und Trafalgar

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