Der verborgene Charme der Schildkröte
Ohnmachtsanfall ihres Kanarienvogels gewesen war, reichte ihm schließlich sein Scavenger’s Daughter, das er nicht aus Leidenschaft, sondern zur Buße bestellt hatte. Es war das einzige Ale, das auf dem Gelände gebraut wurde, und nach Meinung etlicher Tower-Bewohner war es noch grauenhafter als die Foltermethode, nach der es benannt worden war. Balthazar Jones hatte erst drei zögerliche Schlucke genommen, als sich der Chief Yeoman Warder erhob, um Ruhe bat und ihn vorrief, damit er den anderen erklären könne, was für eine Katastrophe er über den Tower zu bringen gedenke.
Nachdem er sein Pint auf die Bar gestellte hatte, wandte er sich an seine Kollegen, deren Haare noch den Abdruck der Hüte aufwiesen und ansonsten in Dutzenden von Grautönen erglänzten. Er fürchtete um seinen Job im Tower, als ihm plötzlich die Worte entfallen waren, die er so sorgsam geprobt hatte. Dann erblickte er den Kaplan, der neben Dr. Evangeline Moore saß, ihn anlächelte und aufmunternd beide Daumen in die Höhe reckte.
»Wie die meisten Anwesenden bereits wissen, hat es im Tower von London vom dreizehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert eine Königliche Menagerie gegeben«, begann er. »Zunächst dienten die Tiere nur der Erheiterung der Herrscher, aber schon in der Regierungszeit Elisabeths I. wurden sie eine öffentliche Attraktion. Es wurde sogar ein Löwe nach der Königin benannt. Man sagte, ihre Gesundheit und die des Löwen stünden in direkter Wechselwirkung miteinander, und tatsächlich starb das Tier nur wenige Tage vor ihr.«
»Komm zur Sache, Mann«, rief der Chief Yeoman Warder.
»Die Tradition, dem Königshaus lebende Tiere zu schenken, hält bis zum heutigen Tag an. Sie werden im Londoner Zoo gehalten«, fuhr Balthazar Jones fort und machte eine Pause, bevor er hinzufügte: »Die Königin hat beschlossen, sie in den Tower bringen zu lassen und die Menagerie wiederzueröffnen. Sie verbindet damit die Hoffnung, dass sie eine größere Zahl an Besuchern anlocken. Nächste Woche sollen die Tiere eintreffen.«
Sofort erhob sich allgemeiner Protest.
»Aber wir brauchen nicht noch mehr Touristen. Wir werden so schon von diesem Volk überrannt«, rief der Rabenmeister.
»Letzte Woche hat einer an meine Tür geklopft und die Frechheit besessen zu fragen, ob er sich mal umschauen dürfe«, sagte eine der Beefeater-Frauen. »Ich habe gesagt, er soll sich zum Teufel scheren, aber er schien mich nicht zu verstehen. Schließlich hat er gefragt, ob ich drinnen ein paar Fotos für ihn schießen könne. Ich habe das Klo fotografiert, ihm seine Kamera zurückgegeben und die Tür zugeknallt.«
»Wo genau sollen die Tiere denn untergebracht werden?«, fragte einer der Beefeater. »Bei mir zu Hause ist kein Platz dafür.«
Balthazar Jones räusperte sich. »Im Festungsgraben wurde bereits mit dem Bau des Pinguinbeckens begonnen. Daneben werden noch etliche weitere Gehege entstehen, und auch auf der Wiese vor dem White Tower wird eins errichtet. Dann funktionieren wir noch ein paar der ungenutzten Türme um. Die Vögel zum Beispiel werden im Brick Tower untergebracht.«
»Um was für eine Art Pinguine handelt es sich denn?«, fragte der Yeoman Gaoler, dessen Bart sein wuchtiges Kinn wie verblühtes Heidekraut überwucherte. »Hoffentlich nicht um solche wie auf den Falklandinseln. Die sind schlimmer als die Argentinier – zwicken dich in den Arsch, kaum dass sie dich gesehen haben.«
Balthazar Jones nahm einen Schluck von seinem Pint. »Alles, an was ich mich erinnern kann, ist, dass sie außerhalb des Wassers kurzsichtig sind und eine Vorliebe für Tintenfisch haben«, antwortete er.
»Exsoldaten, die sich um Tiere kümmern … Nie in meinem Leben habe ich mich so gedemütigt gefühlt«, wütete der Chief Yeoman Warder, dessen Leicheneinbalsamiererfinger noch bleicher waren als sonst, als er nach seinem Glas griff. »Ich hoffe, Sie bewähren sich als Tierwärter besser, als Sie es beim Stellen von Taschendieben getan haben, Yeoman Warder Jones. Sonst sind wir alle verloren.«
Etliche Beefeater erhoben sich und gingen zur Theke, während die anderen weiterhin über die Invasion der Vierbeiner lamentierten. Balthazar Jones nahm sein Glas, ging zu dem Kanarienvogel und hoffte, man würde ihn einfach vergessen. Er beugte sich über die Kreatur, die immer magerer wurde, griff in seine Tasche und holte einen Feigenkeks heraus. Den hatte er im Büro aus einer Schachtel stibitzt, auf der mit dickem schwarzen Filzstift ›Yeoman
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