Der verborgene Charme der Schildkröte
schob er die Tür auf und machte sie hinter sich wieder zu. Nachdem er sich mit Hilfe seines Feuerzeugs orientiert hatte, stieg er die Treppe des Turms hinauf, in dem einst William Wallace gesessen hatte. Im ersten Stockwerk tastete er in der Finsternis nach dem Türriegel und betrat dann einen leeren Raum. Er blickte auf seine im Dunkeln leuchtende Uhr, ein Geschenk seiner Frau. Da er ein paar Minuten zu früh dran war, setzte er sich auf die Holzdielen und zog seine Handschuhe aus. Sein Herz klopfte freudig und erwartungsvoll. Schließlich hörte der Rabenmeister, wie sich unten die Tür öffnete und leise wieder schloss. Als im steinernen Treppenhaus das Geräusch von Absätzen widerhallte, wischte er sich die feuchten Hände an der Hose ab.
Es hatte nicht lange gedauert, bis er die Freuden des wiedereröffneten Tower-Cafés entdeckt hatte. Seine Begeisterung galt allerdings weniger der Speisekarte, die der Beefeater genauso verabscheute wie die Touristen, als vielmehr der appetitlichen neuen Chefin. Ambrosine Clarkes mangelndes Talent, das manch einer an der Schwelle zur Grausamkeit verortete, hatte er sofort vergessen, als sie sich vorbeugte und ihm beim Rühren in etwas, das eine Steckrübensuppe sein sollte, Einblick in ihr herrliches Dekolleté gewährte. Da sich die schlechte Ernährung auf ihren Verstand auswirkte, willigte sie ein, sich mit ihm im Pig in a Poke, einem Pub nicht weit vom Tower entfernt, zu treffen. Nachdem sie sich auf dem Barhocker niedergelassen hatte, vergab sie ihm seine mangelnde Fantasie bei der Wahl eines Treffpunkts, als er ihr seine schier unbeschreibliche Begeisterung für ihren Aal-Pie ins Ohr flüsterte. Auch seine wiederholte Behauptung, Raben seien klüger als Hunde, vergab sie ihm, als er ihr die Hand auf den üppigen Oberschenkel legte und Lobeshymnen auf ihren Kutteleintopf sang. Und selbst die Tatsache, dass er eine Ehefrau hatte, vergab sie ihm, als er ihr mit dem Finger über die von den Küchendünsten noch erhitzte Wange fuhr und versicherte, dass ihr nierenfettgetränkter Suet Pudding besser sei als der seiner Mutter.
Der Rabenmeister sah, wie das Licht eines Streichholzes an der Wand hochwanderte. Plötzlich wurde es ausgeblasen, und der Turm versank wieder in Dunkelheit. Er hörte, wie sich Schritte näherten und langsam über die Schwelle traten. Als er den Geruch von Küchenfett wahrnahm, stand er auf und streckte die Hände aus. Und als er schließlich in den vollen Genuss von Ambrosine Clarke kam, waren ihre katastrophalen Kochkünste endgültig vergessen.
Nachdem sie den Salt Tower betreten hatte, stieg Hebe Jones zum Dach hinauf, um die triefnasse Wäsche abzunehmen. Es war eher Sturheit als Optimismus, was sie am Morgen dazu verleitet hatte, sie draußen aufzuhängen. Im Lichte des knochenfarbenen Monds, der sich für einen kurzen Moment zwischen den Wolken durchgekämpft hatte, lief sie an der Leine entlang und warf die schweren, nach den Ausdünstungen der Themse riechenden Kleidungsstücke in ihren Wäschekorb. Als sie mit den Bettlaken kämpfte, damit sie nicht in die Pfützen hinabhingen, schaute sie zur Tower Bridge hinüber und dachte daran, wie sie Milo davon hatten überzeugen müssen, dass man die abgeschlagenen Köpfe nicht auf der neuen, sondern auf der alten Tower Bridge, ein Stück den Fluss hinunter, aufgespießt hatte.
Ihr Ehemann saß am Tisch und hatte seinen Kopf in die Hände gestützt, als sie mit ihrem Korb wieder in die Küche kam. Sein Bart war noch feucht vom letzten Schluck Scavenger’s Daughter, mit dem er seine Buße vollendet hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie und quetschte sich hinter seinem Stuhl durch, um zum Wäschetrockner zu gelangen.
»Alles in Ordnung«, antwortete er und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Wie war es bei der Arbeit? Wurde etwas Interessantes abgegeben?«
Hebe Jones musste sofort an die Urne denken, die immer noch auf dem Tagebuch des Gigolos stand. »Eigentlich nicht«, antwortete sie und stopfte die Laken in den Trockner.
Als sie mit dem Kochen fertig war, nahm sie die beiden Tabletts, die am Brotkasten lehnten. Das Ehepaar aß abends nicht mehr in der Küche, weil keiner von ihnen die Stille ertragen konnte, die wie ein unerwünschter Gast mit am Tisch saß. Sie füllte zwei Teller mit Moussaka, ein Rezept, das seit Generationen in der Familie Grammatikos weitergereicht wurde und das sie auch Milo beizubringen gehofft hatte, trug die Tabletts ins Wohnzimmer und stellte sie vor das Sofa auf
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