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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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einem Papierkorb nach einem leeren Papierchen Ausschau hielt.
    Eine Pause trat ein.
    »Ich habe zu viele Neunaugen gegessen«, erklärte Balthazar Jones, dessen Verstand von seiner Verzweiflung fortgespült wurde.
    »Was bitte?«
    Der Beefeater versuchte, sich zu erinnern, was er gesagt hatte, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er dem Yeoman Gaoler mitgeteilt hatte, dass er zu viel von dem aalartigen Fisch, auf den der Tod Heinrichs I. zurückzuführen war, gegessen haben wollte. Nun gab es aber kein Zurück mehr.
    »Zu viele Neunaugen«, wiederholte Balthazar Jones so leise wie möglich.
    »Sprechen Sie lauter, Mann!«
    »Neunaugen«, sagte er. »Zu viele.«
    Erneut trat eine Pause ein.
    »Moment, bitte«, sagte der Yeoman Gaoler und legte den Hörer hin. Er ging zu dem Aktenschrank neben der Schießscharte und zog den Ordner heraus, in dem Abwesenheiten verzeichnet wurden. Dann kehrte er zum Schreibtisch zurück, setzte sich, griff zum Hörer und nahm einen Stift aus der alten Golden-Syrup-Dose.
    »Neunaugen in einem Wort?«, erkundigte er sich, als er die Seite gefunden hatte. Nervös drehte er den Stift in seinen Fingern herum, während er auf die Antwort wartete.
    »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Balthazar Jones und starrte auf den nassen Morgenmantel, der an der Tür hing.
    »Neun-au-gen«, sprach der Yeoman Gaoler vor sich hin, als er Fehlgrund und Datum eintrug. Er schwieg einen Moment, bevor er sagte: »Sie müssen ziemlich gut gewesen sein.«
    Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, nahm Balthazar Jones den Brief, den er auf seinem Kissen gefunden hatte, als er am Morgen triefnass und mit dem Geruch der Themse behaftet ins Bett zurückgekehrt war. Obwohl er ihn schon mehrfach gelesen hatte, konnte er immer noch keinen Hoffnungsschimmer darin entdecken, dass seine Frau je zurückkehren würde. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte, dass seine Weigerung, über Milos Tod zu reden, große Bitterkeit in ihr hervorgerufen hatte und dass der Prozess der allmählichen Zersetzung ihrer Liebe sie verzweifeln ließ.
    Als er auf den Namen am Ende der Seite starrte, dachte er an das schier unfassbare Glück, das ihn und Hebe Grammatikos vor all den Jahren zusammengeführt hatte. Ein solcher Zufall war das gewesen, dass er nicht die beruhigende Macht des Schicksals dahinter erkennen konnte und seither in ständiger Panik vor der launischen Natur des Glücks lebte.
    Zu lange hatte er nämlich gedacht, dass er überhaupt nicht heiraten würde. Er war ein Einzelkind und war nachts nicht selten vom Gelächter aus dem Schlafzimmer seiner Eltern über ihm geweckt worden. In der Annahme, alle Beziehungen seien derart heiter, war seine Enttäuschung groß, als die Mädchen, die er traf, ihn nicht zum Lachen brachten. Seine Eltern versicherten ihm, dass seine Braut schon noch kommen würde, doch als die Jahre vergingen und sich nichts dergleichen bewahrheitete, beschloss er, zur Army zu gehen, um sich von seiner Einsamkeit abzulenken. Er meldete sich als Gardist, weil er dann seltener in die Verlegenheit kommen würde, auf jemanden schießen zu müssen. Am Tag vor seiner Abreise hatte er sein Haar schon kurz geschoren und seine Tasche vor dem Schlafzimmer bereitgestellt, als er noch einmal in den Laden an der Ecke ging.
    Er wollte Briefmarken für die Briefe an seine Eltern besorgen, doch da sah er sie plötzlich mit einem Battenberg Cake im Gang stehen, das schwarze Haar an ihrem türkisfarbenen Kleid herabwallend. Die Augen eines Rehkitzes fixierten ihn, und von dem Moment an war es um seinen Verstand geschehen. Er ging zu ihr hin und erklärte, dass der Kuchen mit dem schreiend gelben und rosafarbenen Schachbrettmuster von einem entfernten Verwandten von ihm erfunden worden sei. Weil er der Frau, die sein Herz erobert hatte, wegen einer misslichen Allergie keine Blumen schicken konnte, buk er für sie einen Kuchen in den verführerischsten Farben seines Gartens. Die vier Farbfelder standen jeweils für eine Eigenschaft, die ihn an ihr faszinierte: die Blässe ihrer Haut, ihre Bescheidenheit, ihr scharfer Verstand, ihr Klavierspiel. Jede Woche erschien bei ihr eine Kutsche mit einem solchen Kuchen auf der Rückbank. Die Frau jedoch, der von ihrem Arzt verboten worden war, Zucker zu essen, probierte ihn nicht einmal. Stattdessen verpackte sie einen Teil ihres Porzellans in Kisten und stellte an ihrer statt die Liebesbeweise in die Esszimmervitrine. Als der Mann von ihrem Lager

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