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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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Wiederherstellung der nötigen Würde, steckte der Rabenmeister seine Schere in die Tasche und stand auf. Er ging zum Eingang des Towers und wartete auf der Brücke auf die Touristen, die an der letzten Führung des Tages teilnehmen würden. Die schwarz behandschuhten Hände vor dem Bauch gefaltet, beobachtete er aufmerksam die Besucher, die den Tower verließen, damit nicht irgendjemand als außergewöhnliches Souvenir einen Vogel mitgehen ließ. Als eine Giraffe ihren Hals nach einem Blatt reckte, zeigten sofort etliche Finger auf sie. Ein Mann mit Videokamera vor dem Auge trat an den Rabenmeister heran und fragte, wann die Menagerie eröffnen würde.
    »Übermorgen, falls der Wärter der Königlichen Menagerie alles im Griff hat«, kam die Antwort unter dem Schnurrbart hervor.
    »Ich habe gehört, dass es vor vielen Jahren hier schon einmal eine Menagerie gegeben haben soll«, fuhr der Australier fort.
    »Das stimmt, und zwar bis in die 1830er Jahre, als man schließlich gemerkt hat, dass es keine gute Idee ist, wilde Tiere hier zu halten. Das gilt im Übrigen auch heute noch, falls Sie mich fragen«, sagte der Rabenmeister und blickte sich wieder zu der Giraffe um.
    »Ist mal jemand zu Tode gekommen?«, fragte der Mann hoffnungsvoll.
    Nun erzählte ihm der Rabenmeister die traurige Geschichte von Mary Jenkinson, die mit dem Löwenwärter zusammengelebt hatte. »Eines Tages im Jahre 1686 war sie im Löwenkäfig und streichelte einem der Tiere die Pfote, als es plötzlich ihren Arm ins Maul nahm und ihn nicht mehr losließ. Der Arm wurde amputiert, um ihr das Leben zu retten, aber ein paar Stunden später ist sie trotzdem gestorben.«
    Der Tourist erzählte die Geschichte sofort seiner Frau, die ebenfalls begeistert strahlte und ihren Mann fragte, ob sie nicht wiederkommen sollten, wenn die Menagerie eröffnet sein würde.
    Der Rabenmeister sah auf die Uhr und bat die Besucher, die auf die Führung warteten, näher zu treten. Dann breitete er die Arme aus und rief in seiner theatralischsten Manier, die ihm das Trinkgeld der Amerikaner sichern sollte: »Willkommen im Königlichen Palast und der Festung Ihrer Majestät, dem Tower von London! Es ist mir eine große Freude, dass ich Sie in der nächsten Stunde begleiten darf, wenn wir gemeinsam über neunhundert Jahre Geschichte …«
    Eine Stunde später stand er an der Tür der Kapelle, während die Touristen hinausmarschierten und ihm jeder eine Münze in die Hand drückte. Sobald der Letzte verschwunden war, ging er zum Rabengehege und rief ein Tier nach dem anderen beim Namen. Torkelnd landeten sie auf dem Rasen, wankten zu ihrer jeweiligen Holzhütte und schwangen sich hinein. Er schloss die Tür hinter ihnen, um sie vor den Klauen der Stadtfüchse zu schützen, sah auf die Uhr und strich sich mit dem Lederhandschuh über den Schnurrbart. In gespannter Vorfreude durchquerte er die Festung in Richtung Brick Tower und blickte sich mit der Verstohlenheit eines Pferdediebs um. Zufrieden, dass niemand ihn beobachtete, schloss er die Tür auf. Er zog sie hinter sich wieder zu, griff in der Dunkelheit nach dem Seilhandlauf und merkte plötzlich, dass er immer noch ein Wams trug. Das schien ihm nicht der richtige Aufzug für ein unerlaubtes Treffen zu sein, also knöpfte er die dunkelblaue Jacke auf, zog das Wams aus und ließ es als warmes Bündel auf den Stufen liegen, wo er es später wieder einsammeln würde. Sobald er sich wieder angezogen hatte, stieg er die Steintreppe hoch. Die Tür im ersten Stock war geschlossen, also tastete er nach dem Riegel und drückte ihn hinab. Das plötzliche Geräusch erschreckte die Vögel, die einen solchen Tumult veranstalteten, dass der Rabenmeister, der die neue Voliere vollkommen vergessen hatte, ebenfalls loskreischte. Die Vögel flogen immer noch wie die Irren im Kreis herum, als auch Ambrosine Clarke eintraf, in Jeans und einem Pullover, der Einblick in die beunruhigenden Tiefen ihres Dekolletés gewährte. Der Rabenmeister streckte im Dunkeln die Hand nach ihr aus und nahm sofort den Geruch von Bratfett wahr. Sobald sie sich der Kleidung entledigt hatten, sanken sie zu Boden und wurden, weil das Geflatter lauter Samenkapseln aufgewirbelt hatte, mit dem Zeug vollgeregnet. Der ekstatische Schrei, den die Köchin schließlich ausstieß, wurde noch übertönt von den Unflätigkeiten des Fledermauspapageis, der, kopfüber an seinem Ast hängend, unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war.
    Seit er von der Patrouille zurückgekehrt

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