Der verborgene Charme der Schildkröte
nicht zum Sofa passte.
Aus ihrer schwarzen Tasche nahm sie eine Mappe, legte sie auf ihre Knie, öffnete sie und fuhr mit dem Finger über die Seite. Dann runzelte sie die Stirn und sagte: »Nach Auskunft des Yeoman Gaoler haben Sie zu viele Neunaugen gegessen?«
Balthazar Jones schaute zu Boden und bohrte seinen schmutzigen Zeh in eine fadenscheinige Stelle im Flickenteppich. Das einzige Geräusch kam von Mrs. Cook, die sich mit einem leisen Knarren erhob und ihre Tagesreise durch die Wohnung antrat. Die Tower-Ärztin beobachtete sie, während der Beefeater weiterhin zu Boden starrte. Dann schaute sie wieder auf ihren Patienten, der mittlerweile seinen halben Zeh in das Loch im Teppich gebohrt hatte.
»Das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte sie unvermittelt. »Sie würden sich wundern. Wie viele waren es denn? Ein halbes Dutzend? Nun, egal, es ist bestimmt nichts Ernsthaftes. Lassen Sie es heute einfach etwas ruhiger angehen«, schloss sie mit einem Lächeln, das er als Schlussstrich unter der Angelegenheit verstand.
Als Balthazar Jones aber dachte, die Ärztin würde nun endlich gehen, bat sie darum, ihn kurz untersuchen zu dürfen. Er fühlte sich überrumpelt und ließ sie mit Gerätschaften, die sich auch in der Folterinstrumentensammlung im Wakefield Tower gut gemacht hätten, an sich herumbohren und herumhämmern. Anschließend zog er sich wieder auf sein Sofa zurück und rieb sich seinen Bart, während die Waffen in der schwarzen Tasche verschwanden.
»Es scheint alles in Ordnung zu sein. Bleiben Sie ruhig sitzen«, erklärte sie, stieg über Mrs. Cook hinweg und ging in Richtung Tür. Als sie nach dem Riegel griff, drehte sie sich plötzlich um und sagte: »Tut mir leid, die Sache mit Ihrer Frau.«
Die plötzliche Stille hielt an, bis Absätze die Steintreppe hinunterklapperten. Der Beefeater, der nicht im Geringsten überrascht war, dass sich die Sache bereits herumgesprochen hatte, blieb zusammengesunken auf dem Sofa sitzen. Die Gedanken, die ihn nun zu verschlingen drohten, waren so unerträglich, dass er aufstand und ins Schlafzimmer hochging. Lieber meldete er sich zum Dienst, als dass er sich in solchen Grübeleien verlor. Langsam zog er seine Uniform an und stieg, leicht schwankend, in die viktorianische Hose.
An einer Stelle neben der Brücke über den Graben, wo er nicht gesehen werden konnte, kniete sich der Rabenmeister hin und nahm eine Nagelschere aus der Tasche. Sorgfältig beschnitt er das Gras, das um die winzigen Kreuze der vor langer Zeit verschiedenen Raben herumwucherte, von denen einige buchstäblich von der Stange gefallen waren. Ungeachtet der Tatsache, dass man es den Touristen unter die Nase rieb, war die Geschichte, dass das Königreich zu Fall komme, wenn die Raben den Tower verließen, natürlich kompletter Blödsinn. Das Königreich hatte nicht einmal leise gezittert, als die Vögel kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in Käfige gesperrt und bei Anbruch der Nacht abtransportiert worden waren. Ihr unerwarteter Urlaub war von höchster Stelle organisiert worden, um sie vor einem Angriff zu bewahren, der die Moral der Nation untergraben hätte. Am selben Tag hatte man auch die Kronjuwelen beiseitegeschafft, indem als Beerdigungsunternehmer getarnte Wachleute sie in Särgen abgeholt und in dem Tunnelsystem von Westwood Quarry in Wiltshire versteckt hatten. Die eingesperrten Raben hingegen hatte man mit Krankenwagen zur Tante eines Beefeaters nach Wales transportiert und dort in ihr Reihenhaus geschmuggelt. Das kieselverputzte Haus in Swansea war fortan verdunkelt geblieben, und die Tante durfte nicht einmal mehr die Tür öffnen, damit sich nicht herumsprach, dass die Raben den Tower verlassen hatten. Die Frau wurde nicht nur dafür bezahlt, dass sie nach den Vögeln sah, ihr wurde darüber hinaus auch noch eine lebenslange Rente zugesichert, damit sie nicht über den vorübergehenden Umzug sprach.
Als der Krieg dann endlich vorbei war, konnte man nicht mit Bestimmtheit sagen, wer wen verrückt gemacht hatte. Die Tante sehnte sich nach menschlichem Umgang und erzählte mit wildem Blick jedem, der es wissen wollte – und auch jedem, der es nicht wissen wollte –, mit welch geheimer Mission sie während des Kriegs betraut worden war. Aber nicht einmal die Lokalzeitungen glaubten ihr. Die Generation der Kriegsraben allerdings, eine Art, die für ihr Nachahmungstalent bekannt war, verlor in der verbleibenden Zeit in der Festung nie ihren Waliser Akzent.
Zufrieden mit der
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