Der verborgene Charme der Schildkröte
sich weg von ihrem in einen unruhigen Schlaf versunkenen Ehemann und dachte an den Abend, den sie soeben verbracht hatten. Balthazar Jones war wie immer in den Raum oben im Salt Tower hochgestiegen und hatte nicht ein Wort über seinen Tag verlauten lassen. Sie war auf dem Sofa sitzen geblieben, niedergedrückt vom Schmerz und von der Frage, wie er es hatte vergessen können.
Sie dachte an Milos letzten Geburtstag, als er sich wieder einmal einen Chemiebaukasten gewünscht hatte. Das hatte er getan, seit ihm sein Vater erstmals erzählt hatte, dass Sir Walter Raleigh im Hühnerstall des Towers seinen berühmten Balsam von Guyana gebraut hatte. Sehr zu ihrem Ärger hatte er dem Jungen wundersame Ideen über dieses Getränk in den Kopf gesetzt, das angeblich mit Gold und Horn vom Einhorn angereichert war und Königin Anne von einem gefährlichen Fieber geheilt hatte.
»Daddy sagt, dass die Königin so beeindruckt war, dass sie für ihren Sohn, Prinz Heinrich, auch etwas von dem Balsam wollte«, erzählte der Junge, als es auf seinen Geburtstag zuging. »Er sagt, dass sie ihn heilen wollten, indem sie ihm tote Tauben auf den Kopf gelegt und zwei Hühnerhälften an seine Fußsohlen gepresst haben. Als er dann aber den Balsam bekam, hat er die Augen geöffnet und sich aufgesetzt und gesprochen.«
Hebe Jones fuhr fort, Kartoffeln zu schälen. »Dein Vater hat offenbar vergessen, dir zu erzählen, dass er bald darauf gestorben ist«, erwiderte sie und weigerte sich, trotz all der flehentlichen Bitten, und obwohl ihr Ehemann jedes Experiment zu überwachen versprach, ihrem Sohn einen Chemiebaukasten zu kaufen. Ihre Angst vor einer Katastrophe war einfach zu groß.
Als der Junge sein Geschenk aufriss, fand er also ein Teleskop darin, das nicht einmal ansatzweise explosive Fähigkeiten besaß. Die Eltern stiegen mit dem Jungen auf das Dach des Salt Towers, wo Balthazar Jones ihm sämtliche Sterne zeigte, die der erste Königliche Astronom, der im Tower gelebt hatte, einst schon gesehen hatte. »Und sollten dir je die Raben vors Teleskop fliegen, sag Bescheid, dann hole ich Großvaters Schrotflinte«, versprach der Beefeater. Obwohl die Vorstellung, sein Vater könne die abscheulichen Vögel in einen Haufen schwarzer Federn verwandeln, Milo zu freuen schien, wusste Hebe Jones, dass die Beobachtung von Planeten kein Ersatz für die erträumten Experimente war. Deshalb versprach sie ihm, dass er das Geschenk, das er sich immer gewünscht hatte, zu seinem zwölften Geburtstag bekommen würde. Der fand allerdings nie statt. Als sie sich auf die andere Seite drehte, um das Versprechen, das sie nicht hatte halten können, zu vergessen, lief ihr eine heiße Träne die Wange hinab.
Ein paar Stunden später wachte sie auf. Im Raum war es immer noch dunkel. Sie spürte sofort, dass ihr Ehemann nicht da war, aber als sie mit der Hand über das Laken strich, merkte sie, dass es noch warm war. Sie schlug die schäbige Bettdecke zurück, stand auf und zog einen Vorhang beiseite. Der Tower wurde von blassem Licht erhellt. Durch das Regenwasser, das in trägen Tropfen die Scheibe herabrann, sah sie ihren Ehemann die Stufen zu den Zinnen hochsteigen. Sein Morgenmantel klebte an seinem Körper. Als er schließlich mit einer neuen Regenart in der Tasche zurückkehrte, waren Hebe Jones und ihr Koffer verschwunden.
KAPITEL ZEHN
Eine solch drückende Last lag ihm auf der Brust, dass Balthazar Jones seinen Dienst unmöglich antreten konnte. In einer trockenen Schlafanzughose saß er auf der Bettkante und griff zum Telefon. Als er die Nummer des Büros im Byward Tower wählte, verfolgten seine Augen jede Umdrehung der Wählscheibe und ihre schwerfällige Rückkehr in die Ausgangsposition.
»Ja?«, meldete sich der Yeoman Gaoler.
Der Beefeater knetete an der schäbigen Bettdecke herum. »Hier ist Yeoman Warder Jones«, sagte er.
»Guten Morgen, Yeoman Warder Jones. Der Spitzmaus geht es gut. Als ich heute Morgen in der Dusche war, hat sie eine Heuschrecke gefressen.«
»Das ist schön.«
»Ist es übrigens eine Sie oder ein Er?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde mich erkundigen.« Balthazar Jones räusperte sich, dann fügte er hinzu: »Ich kann heute nicht zum Dienst kommen.«
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich der Yeoman Gaoler, stand auf und schaute sich auf der Suche nach seinen Feigenkeksen im Raum um.
»Es geht mir nicht gut.«
»Aha?«, erklang die gedämpfte Reaktion, weil der Yeoman Gaoler soeben in
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