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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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Mantel, am Schminktisch. Als sie ihren Koffer öffnete, merkte sie, dass sie ihr Nachthemd vergessen hatte. Es liegt wohl im Salt Tower auf dem Bett, dachte sie, und ihre Gedanken wanderten zu ihrem Ehemann. Sie fragte sich, ob irgendetwas im Kühlschrank war, das er abends essen konnte. Da sie in der unvertrauten Umgebung nicht nackt schlafen wollte, hängte sie Mantel und Rock in den leeren Kleiderschrank und ging in Bluse und Strumpfhose zu Bett. Von dort betrachtete sie die kunstvoll gerafften, cremefarbenen Vorhänge, die edlen weißen Bademäntel und die Vase mit den rosa Rosen auf dem Tisch und stellte sich die Paare vor, die in diesem Zimmer ihre Ehe besiegelt hatten. Sie fragte sich, wie viele von ihnen noch zusammen waren.
    Abgesehen von kurzen Phasen, in denen sie einschlief, verbrachte sie die Nacht damit, darauf zu lauschen, wie Türen knallten und im Zimmer über ihr gelegentlich gelacht wurde. Und trotz des edlen Speisesaals mit den Leinenservietten, dem polierten Silberzeug und den livrierten Kellnern verzichtete sie am nächsten Morgen aufs Frühstück und zog ihm die vertraute Gesellschaft verlorener Besitztümer vor. Nachdem sie ihren Koffer unter den Schreibtisch geschoben hatte, ging sie zum original viktorianischen Schalter und schlug eines der Register vom vergangenen Tag auf. Sie sah, dass Samuel Crapper dieselbe Tomatenpflanze, die er schon einmal in diesem Monat verloren hatte, ein weiteres Mal abholen gekommen war. Außerdem war auf der Hammersmith-&-City-Line eine handgeschriebene Partitur vergessen worden, und auf einer Bank in der Tottenham Court Road Station hatte man ein nagelneues Brautkleid gefunden.
    Sie saß an ihrem Schreibtisch und schaute immer noch verzweifelt ins Telefonbuch, als Valerie Jennings kam und neben der aufblasbaren Puppe ihren dunkelblauen Mantel aufknöpfte. »Geht’s besser?«, fragte sie Hebe Jones.
    »Ja, danke«, antwortete die und merkte sofort, dass ihre Kollegin sich irgendwie verändert hatte. Ihre Augen hinter den Brillengläsern wurden von Mascara betont, was normalerweise nur zu Hebe Jones’ Geburtstagsessen im Hotel Splendid geschah. Und statt in die üblichen flachen, schwarzen hatte sie ihre breiten Füße in hochhackige Schuhe gequetscht. Außerdem fehlte die weiße Pappschachtel von der Bäckerei an der Hauptstraße mit irgendeiner Kleinigkeit fürs zweite Frühstück. Stattdessen hatte Valerie Jennings eine braune Papiertüte dabei, die verdächtig nach frischem Obst aussah.
    »Und? Wann wirst du dich wieder mit Arthur Catnip treffen?«, fragte Hebe Jones.
    Valerie Jennings schaute schnell weg. »Keine Ahnung«, sagte sie und hängte ihren Mantel auf. »Ich habe nichts von ihm gehört.« Dann schlug sie die Zeitung auf und reichte sie Hebe Jones. »Erinnerst du dich, dass ich dir von dem Mann erzählt habe, der in den Teepavillon kam und wissen wollte, ob wir ein Bartschwein gesehen hätten?«, fragte sie. »Ganz offenbar ist es aus dem Londoner Zoo ausgebrochen und läuft immer noch frei herum.«
    Hebe Jones betrachtete das Foto auf der Titelseite, das man von dem Tier in seinem Gehege aufgenommen hatte. Die prächtigen Barthaare zogen sich über mehrere Spalten hinweg. Schaudernd gab sie ihrer Kollegin die Zeitung zurück und wandte sich wieder dem Telefonbuch zu. Sie suchte die Stelle, wo sie aufgehört hatte, griff zum Hörer und wählte eine Nummer.
    »Spreche ich mit Mrs. Perkins?«, fragte sie, als sich endlich jemand meldete.
    »Ja.«
    »Hier ist Mrs. Jones vom Fundbüro der Londoner Untergrundbahn. Bei uns wurde etwas abgegeben, das mit einer Clementine Perkins zu tun hat, die letztes Jahr gestorben ist. Ich habe mich gefragt, ob Sie sie vielleicht gekannt haben.«
    Für einen Moment herrschte Schweigen.
    »Sie haben sie gefunden?«, lautete schließlich die Antwort. »Wir sind nicht mehr zur Ruhe gekommen, seit sie verschwunden ist. Mein Ehemann wird sich wahnsinnig freuen. Ich weiß aber nicht, wie wir zu Ihnen kommen sollen, meine Liebe. Ich bin nicht mehr gut auf den Beinen, und mein Mann geht auch nicht mehr in die Stadt. Er behauptet, da seien so viele Leute, dass man nur noch auf der Stelle tritt, und dann ist es auch schon wieder Zeit heimzukehren.«
    »Soll ich es Ihnen vorbeibringen? So etwas würde ich lieber nicht in die Post geben.«
    »Das wäre sehr nett von Ihnen.«
    Hebe Jones brauchte nicht lange, um das Haus zu finden, weil es sich von den anderen in der Straße durch den vollkommen verwilderten Rasen abhob. Sie schob

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