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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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war, hatte Balthazar Jones reglos auf dem Sofa gesessen. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Vorhänge zuzuziehen, und starrte nun in die Nacht, die zu den Gitterfenstern um ihn herum emporkroch. Vor ihm auf dem Couchtisch lag das Wams, das er auf den Stufen des Brick Towers gefunden hatte, als er auf dem Heimweg noch einmal bei den Vögeln gewesen war. Nichts hatte darauf hingedeutet, was es dort zu suchen hatte. Als er die Tür zur Voliere geöffnet hatte, hatten sich ihre vollkommen erschöpften Bewohner auf den Stangen aneinandergedrängt, um sich im Schlaf wechselseitig zu wärmen, während der Fledermauspapagei kopfüber am Ast gehangen hatte und im Traum hin und her geschwungen war. Einzig der Wanderalbatros war noch wach gewesen und hatte nach seiner Gefährtin gesucht, die, weil sie nicht der Königin gehörte, im Londoner Zoo geblieben war.
    Erst als die Kälte ihn schließlich aufscheuchte, fand Balthazar Jones den Mut, ins Schlafzimmer hochzugehen. Er schloss die Vorhänge, die mit einem jämmerlichen Klagelaut über die Gardinenstangen schleiften, und zog sich ganz langsam aus. Als er endlich seinen Schlafanzug anhatte, blieb er länger als üblich im Bad und beschloss, dass es endlich an der Zeit sei, den Wasserhahn zu reparieren, der tropfte, seit sie vor acht Jahren eingezogen waren. Als er irgendwann nichts mehr fand, mit dem er sich beschäftigen konnte, kehrte er ins Schlafzimmer zurück und schaute auf das leere Bett. Er brachte es nicht übers Herz, sich allein hineinzulegen, deshalb zog er einen Pullover an, schaltete das Licht aus und setzte sich in den Sessel neben dem Fenster. Als er ein paar Stunden später immer noch nicht eingeschlafen war, erhob er sich wieder und zog einen der Vorhänge beiseite. Nachdem er das Fenster geöffnet hatte, schaute er auf die schauerlich in der Dunkelheit gelegene Festung hinab und atmete die feuchte Nachtluft ein. Tödliche Stille herrschte, bis irgendwann die herzzerreißenden Klagen des Wanderalbatros, der um sein Leben balzte, die Nacht durchdrangen.

KAPITEL ELF
    Als Hebe Jones in den frühen Morgenstunden mit ihrem Koffer die Festung verlassen wollte, weigerte sich der diensthabende Beefeater, die kleine Tür in dem schweren Eichenholztor des Middle Towers aufzuschließen. »Das verstößt gegen die Vorschrift«, erwiderte er auf ihre Proteste hin. Sie setzte sich auf ihren Koffer, der vom Staub dreier Jahre bedeckt war, und schaute mit der Ungeduld eines Gefangenen, der auf seine Entlassung wartet, auf die Uhr. Als es endlich sechs war und das alte Schloss geöffnet wurde, erhob sie sich und schritt steif hinaus, um zur Arbeit zu gehen. Dann aber stand sie in der überfüllten U-Bahn und wurde zu einer intimeren Nähe mit ihren Mitreisenden gezwungen, als sie es mit ihrem Ehemann erlebte, und merkte schnell, dass es über ihre Kräfte gehen würde, einen ganzen Tag lang verlorene Gegenstände mit ihren geistesabwesenden Besitzern wieder zu vereinen. Daher stieg sie die Treppe zum Ausgang hoch und hinterließ Valerie Jennings eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, dass es ihr nicht gut gehe. Ziellos lief sie durch die Straßen. Nach einer Weile kam sie am Eingang des Green Park vorbei und trat ein, um dem unermüdlichen Strom der Menschen zu entkommen, die zur Arbeit eilten und ihr im Vorübergehen den Koffer gegen die Beine knallten. Den größten Teil des Tages saß sie im Wind auf einer Bank und fragte sich, ob sie eigentlich noch eine richtige Mutter war, jetzt, da ihr Sohn tot war.
    Als es dunkel zu werden begann, wurde sie von der Angst hochgescheucht. Sie kehrte in die Wärme der U-Bahn zurück, fuhr kreuz und quer in der Gegend herum und fragte sich, wo Frauen normalerweise hingingen, wenn sie ihre Männer verließen. Schließlich begab sie sich in die Baker Street zum Hotel Splendid, dem einzigen Hotel, das sie kannte, weil sie jedes Jahr an ihrem Geburtstag Valerie Jennings dorthin einlud. Als die Dame am Empfang sich erkundigte, ob sie ein Einzel- oder ein Doppelzimmer wünsche, schaute sie auf den Tresen hinab. »Ich bin alleine«, antwortete sie und fragte sich, ob die Frau ihr ansehen konnte, dass ihre Ehe soeben in die Brüche gegangen war.
    Ein polnischer Page begleitete sie zu ihrem Zimmer und bestand darauf, ihren Koffer zu tragen. Danach saß sie auf dem Bett, und ihr Magen erinnerte sie daran, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Sie ließ sich ein Schinken-Sandwich mit Senf kommen und aß es, immer noch im

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