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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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schade finde, dass der Hochhauskomplex Canary Wharf nicht nach einer Plage kleiner gelber Vögel benannt worden sei, wie man vermuten könnte, sondern nach den spanischen Inseln, von denen die Früchte kamen, die an den ehemaligen Docks ausgeladen wurden. Als sie ihm sein Glas reichte, wusste die Wirtin, dass die besondere Gelegenheit nun endlich gekommen war.
    Nach dem ersten Glas verriet sie ihm, dass sie ein Fernstudium in Geschichte absolviere. Das habe sie noch nie jemandem erzählt, sagte sie und beobachtete ihn aufmerksam, da sie von den Leuten nicht für größenwahnsinnig gehalten werden wollte. Die Schenke hatte sie von ihrem Vater übernommen, ohne groß über andere Möglichkeiten nachzudenken. Irgendwann war sie aber zu dem Schluss gekommen, dass es im Leben mehr geben müsse, als Beefeatern ihre Gläser vollzuschenken.
    Rev. Septimus Drew sagte, dass er das für eine glänzende Idee halte. Er habe selbst darüber nachgedacht, Geschichte zu studieren, aber die Theologie habe dann doch die größere Anziehungskraft gehabt. Die Wirtin füllte sein Glas nach, und während sie am Champagner nippten, diskutierten sie über diverse europäische Monarchen, darunter Æthelred den Unberatenen, Pippin den Kurzen und Georg den Rübenhacker.
    Als die Flasche leer war, fand Ruby Dore schließlich den Mut, ihm die Frage zu stellen, die ihr kürzlich in den Sinn gekommen war: warum er nämlich nie geheiratet habe. Rev. Septimus Drew antwortete, dass er erst ein einziges Mal einer Frau begegnet sei, mit der er den Rest seiner Tage verbringen könnte und für die ein Leben im Tower eher ein Privileg als einen Fluch darstelle.
    »Und was ist aus der Geschichte geworden?«, fragte sie.
    »Sie weiß es gar nicht«, gab er zu. Und dann schaute er Ruby Dore so lange in die Augen, dass sie schließlich errötete und auf die Theke hinabblickte.
    Ruby Dore gähnte, als sie die Tassen von Balthazar Jones und Oswin Fielding abspülte. Sie schaute an sich herab und fragte sich, wann die Leute merken würden, dass sie schwanger war. Fragen zum Vater würde sie einfach mit dem Hinweis abbiegen, dass sie nicht mehr zusammen waren. Schon mit ihren Eltern hatte sie das so gemacht, als sie ihnen die Neuigkeit mitgeteilt hatte. Ihre Mutter hatte so lange geschwiegen, dass sie sich schon gefragt hatte, ob sie noch am Apparat war. Dann hatte Barbara Dore wahrheitsgemäß bekannt: »Ich fühle mich noch nicht reif für die Rolle als Großmutter. Andererseits war ich auch nie reif für die Rolle als Mutter.«
    Vor der Reaktion ihres Vaters hatte sie mehr Angst gehabt. Wieder trat am anderen Ende der Leitung Schweigen ein, diesmal, weil Harry Dore ein paar Berechnungen anstellte und dann zu dem Schluss kam, dass seine Tochter in Spanien schwanger geworden sein musste, denn seine mathematischen Fähigkeiten hatte er im jahrzehntelangen Umgang mit schummelnden Beefeatern zur Genüge geschult. Die Frage, die ihm auf der Zunge lag, schluckte er hinunter. Stattdessen gratulierte er ihr und rief seiner zweiten Frau die überwältigende Nachricht zu, dass er Großvater werden würde. Als ihm kurze Zeit später das gesamte Ausmaß der Geschichte aufging, rief er seine Tochter sofort zurück. »Lass um Gottes willen nicht den Tower-Arzt die Geburt betreuen«, drängte er sie. »Ich glaube nicht, dass der Linoleumboden in der Küche noch hinreichend in Schuss ist.«
    Ruby Dore holte aus dem Schrank unter der Treppe den Besen und fegte zwischen den Barhockern herum. Als sie die Tür öffnete, um den Staub hinauszubefördern, bemerkte sie das Zeug, das die Brüllaffen in der Nacht angeschleppt hatten, bevor sie dann endlich eingefangen worden waren. Die Viecher hatten sich alles geschnappt, was ihnen unter die Pfoten gekommen war, und so sammelte Ruby Dore nun eine Socke mit einem Schneemann, einen Priesterkragen und ein paar zerknüllte Papiere auf. Als sie wieder hineinging, kam ihr die Handschrift darauf plötzlich bekannt vor. Sie strich eines der Blätter glatt und erblickte tatsächlich dieselbe Schrift, in der kürzlich das Rezept für den Treacle Cake für sie abgeschrieben worden war. Was sie allerdings nicht verstand, war, warum sich der Kaplan über die Herrlichkeiten einer rosenknospengleichen Brustwarze ausließ.
    Hebe Jones stellte ihren Koffer im Flur ab. Den Schlüssel, den sie soeben von einer Untervermietungsagentur bekommen hatte, steckte sie wieder in die Manteltasche und begann mit der Erkundung ihres neuen Heims. Während sie von

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