Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
hätte.« Sie schaute Rose in die Augen. Dann fuhr sie mit leicht zitternder Stimme fort: »Eine Familie kann nur ein gewisses Maß an Schande überleben, Rose, bis ihr Name endgültig beschmutzt ist. Deswegen ist es von so großer Bedeutung, dass wir beide, du und ich, ein makelloses Leben führen. Deine Cousine Eliza wird eine Herausforderung für dich sein, daran gibt es keinen Zweifel. Sie wird nie eine von uns sein, aber indem wir unser Bestes geben, retten wir sie wenigstens aus der Londoner Gosse.«
Rose tat, als betrachtete sie die Rüschen an den Ärmeln ihres Nachthemds. »Kann man einem Mädchen von niedriger Geburt denn nicht beibringen, sich wie eine Lady zu benehmen?«
»Nein, mein Kind.«
»Nicht einmal, wenn sie von einer adeligen Familie aufgenommen wird?« Rose schaute Mama aus dem Augenwinkel an. »Oder wenn sie einen Gentleman heiratet?«
Mama sah sie durchdringend an, dann sagte sie langsam: »Es wäre natürlich möglich, dass ein sehr außergewöhnliches Mädchen aus armem, aber anständigem Hause, das unermüdlich an sich arbeitet, mit der Zeit einen edleren Charakter erwirbt.« Sie holte kurz Luft, um ihre Fassung wiederzugewinnen. »Aber ich fürchte, im Fall deiner Cousine ist das aussichtslos. Wir dürfen keine hohen Erwartungen an sie stellen, Rose.«
»Selbstverständlich, Mama.«
Der wirkliche Grund für Mamas Verlegenheit stand unausgesprochen zwischen ihnen, obwohl Mama, wenn sie geahnt hätte,
dass Rose das wusste, vor Scham im Erdboden versunken wäre. Es handelte sich um ein weiteres Familiengeheimnis, das Rose ihrer Großmutter entlockt hatte. Ein Geheimnis, das so vieles erklärte: die Animositäten zwischen den beiden Matriarchinnen und vor allem Mamas Besessenheit in Bezug auf gute Manieren, die Zwanghaftigkeit, mit der sie die Regeln der Gesellschaft befolgte, und ihr Drang, stets ein Muster an Wohlanständigkeit zu sein. Lady Adeline Mountrachet mochte vielleicht vor langer Zeit alles darangesetzt haben, die Wahrheit zu vertuschen - die meisten derjenigen, die Bescheid wussten, waren so eingeschüchtert worden, dass sie dieses Wissen aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatten, und die anderen waren so sehr darauf bedacht, ihre gesellschaftliche Stellung nicht zu gefährden, dass ihnen niemals auch nur ein einziges Wort über Lady Mountrachets Herkunft über die Lippen kommen würde -, aber Großmama hatte wenig Hemmungen gehabt. Sie hatte sich gern an das junge Mädchen aus Yorkshire erinnert, dessen fromme, aber verarmte Eltern nicht gezögert hatten, als sich die Gelegenheit bot, sie als Schützling der ruhmreichen Georgiana Mountrachet nach Blackhurst Manor, Cornwall, zu schicken.
An der Tür blieb Mama noch einmal stehen. »Noch etwas, Rose, das Allerwichtigste.«
»Ja, Mama?«
»Das Mädchen darf deinem Vater auf keinen Fall unter die Augen kommen.«
Diese Aufgabe würde leicht zu bewältigen sein. Rose konnte die Gelegenheiten, an denen sie ihren Vater im Lauf des vergangenen Jahres gesehen hatte, an einer Hand abzählen. Doch der Nachdruck, mit dem ihre Mutter die letzte Ermahnung ausgesprochen hatte, erstaunte sie. »Aber warum denn nicht?«
Ein Zögern, das Rose mit wachsendem Interesse registrierte, dann eine Antwort, die mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete. »Dein Vater ist ein viel beschäftigter Mann, eine wichtige Persönlichkeit.
Er muss nicht ständig an die Schande erinnert werden, die dem Namen seiner Familie zugefügt wurde.« Sie atmete hastig ein, dann fuhr sie flüsternd fort: »Glaub mir, Rose, es wird niemandem in diesem Haus zur Freude gereichen, sollte das Mädchen in Vaters Nähe gelangen.«
Vorsichtig drückte Adeline ihre Fingerspitze, beobachtete, wie der rote Blutstropfen heraustrat. Es war das dritte Mal in drei Minuten, dass sie sich in den Finger gestochen hatte. Normalerweise übte die Stickerei eine beruhigende Wirkung auf sie aus, aber diesmal lagen ihre Nerven einfach blank. Sie legte die Stickarbeit beiseite. Das Gespräch mit Rose hatte sie irritiert, ebenso die verwirrende Unterhaltung mit Dr. Matthews, aber der eigentliche Grund war natürlich die Ankunft von Georgianas Tochter. Mochte sie auch nur ein Kind sein, so hatte sie doch etwas mitgebracht. Etwas Unsichtbares, etwas wie die Veränderung in der Atmosphäre, die einem schlimmen Sturm vorausgeht. Und dieses Etwas drohte alles zu zerstören, wofür Adeline so mühsam gearbeitet hatte, ja, es hatte sein heimtückisches Werk bereits begonnen: Schon den
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