Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
ganzen Tag über konnte Adeline an nichts anderes denken als an ihre eigene Ankunft auf Blackhurst. Erinnerungen, die sie längst verdrängt hatte, verfolgten sie nun auf Schritt und Tritt. Und das, nachdem sie so hart daran gearbeitet hatte, alles zu vergessen und dafür zu sorgen, dass auch alle anderen vergaßen.
Als sie im Jahr 1886 auf Blackhurst eingetroffen war, hatte sie ein scheinbar unbewohntes Haus vorgefunden. Und was für ein Haus. Größer als alle, in die sie je einen Fuß gesetzt hatte. Nachdem der Kutscher ihre Koffer abgestellt hatte, stand sie mindestens zehn Minuten herum und wartete darauf, dass jemand sie in
Empfang nahm. Schließlich erschien ein junger, förmlich gekleideter Mann mit arroganter Miene in der Eingangshalle, blieb mit erstaunt hochgezogener Braue stehen und warf einen Blick auf seine Taschenuhr.
»Sie sind zu früh«, sagte er in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, was er von Leuten hielt, die früher als erwartet eintrafen. »Wir hatten erst zum Tee mit Ihnen gerechnet.«
Adeline, die nicht wusste, was man von ihr erwartete, stand nur stumm da.
Der Mann schnaubte. »Warten Sie hier, ich schicke jemanden, der Sie auf Ihr Zimmer führt.«
Adeline hatte das Gefühl, dem Mann lästig zu sein. »Ich könnte auch ein bisschen im Garten spazieren gehen, wenn Ihnen das lieber ist«, sagte sie kleinlaut. Mehr denn je war sie sich ihres nordländischen Akzents bewusst, der hier in dieser mit weißem Marmor ausgekleideten Halle noch stärker zu klingen schien.
Der Mann nickte knapp. »Tun Sie das.«
Pfarrer Lambert hatte bei seinen nachmittäglichen Besuchen bei Adeline und ihren Eltern häufig vom Reichtum und Ansehen der Mountrachets gesprochen. Es sei eine Ehre für die gesamte Diözese, hatte er immer wieder feierlich betont, dass eine von ihnen dazu auserwählt worden war, so eine bedeutende Pflicht auszuüben. Sein Kollege in Cornwall habe unter Anweisung der Dame des Hauses überall nach der am besten geeigneten Kandidatin gesucht, und nun müsse Adeline beweisen, dass sie einer solchen Ehre würdig war. Hinzu kam die großzügige Summe, die Adelines Eltern für ihren Verlust gezahlt wurde. Und Adeline war fest entschlossen, ihre Aufgabe erfolgreich zu erfüllen. Auf dem ganzen Weg von Yorkshire hierher hatte sie sich selbst kleine Vorträge gehalten zu Themen wie »Vornehmheit zeigt sich in der Erscheinung« und »Eine Dame ist, was sie tut«, aber in dem großen, leeren Haus hatten ihre halbherzigen Überzeugungen sich in Wohlgefallen aufgelöst.
Ein lautes Kreischen über ihr ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken, und sie sah eine Gruppe schwarzer Krähen über den Himmel ziehen. Plötzlich ließ sich einer der Vögel im Sturzflug fallen, dann folgte er den anderen zu einer Ansammlung hoher Bäume in einiger Entfernung. Da sie kein bestimmtes Ziel hatte, ging Adeline den Krähen nach und hielt sich dabei innerlich einen kleinen Vortrag darüber, was es bedeutete, einen neuen Anfang zu machen.
Adeline war so sehr mit ihrer stillen Tirade beschäftigt, dass ihr gar keine Zeit blieb, die herrlichen Gartenanlagen von Blackhurst zu bewundern. Noch ehe sie bis zu den Themen »Standesgemäßes Verhalten« und »Aristokratie« gelangt war, hatte sie das kühle Wäldchen durchquert. Am Rand der Klippe blieb sie stehen. Um sie herum raschelte das vertrocknete Gras, und vor ihr lag das tiefblaue Meer wie eine große, samtene Decke.
Adeline klammerte sich an einem Ast fest. Sie hatte schon immer unter Höhenangst gelitten, und ihr Herz raste wie wild.
Als sie vorsichtig einen Blick nach unten riskierte, entdeckte sie ein kleines Boot in der Bucht. Ein junger Mann ruderte es, während eine junge Frau aufrecht darin stand und es mit den Füßen zum Schaukeln brachte. Ihr weißes Kleid war bis zur Taille nass und klebte ihr auf eine Weise an den Beinen, die Adeline nach Luft schnappen ließ.
Adeline hatte das Gefühl, sich abwenden zu müssen, konnte sich jedoch von dem Anblick nicht losreißen. Die junge Frau hatte langes, leuchtend rotes Haar, das ihr in feuchten Strähnen über die Schultern hing. Der Mann trug einen Strohhut, und um seinen Hals hing an einem Riemen eine Art schwarzer Kasten. Er lachte und spritzte die junge Frau nass. Dann kroch er auf allen vieren auf sie zu und streckte die Hand aus, um nach ihren Beinen zu greifen. Das Boot geriet immer mehr ins Schaukeln, und kurz bevor er sie zu packen bekam, drehte die junge Frau sich um und machte
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