Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
dritte Weihnachtsfest nahte, war uns das Geld fast ausgegangen, und wir hatten nicht viel mehr vorzuweisen als eine Ehe, die nur noch an einem seidenen Faden hing. Wir hatten bereits einen Großteil des Grundstücks verkauft, und am Heiligabend 1974 standen wir kurz davor, das Handtuch zu werfen und reumütig nach London zurückzukehren.«
Samantha erschien mit einem vollbeladenen Tablett, stellte es auf dem Tisch ab und schaute Julia zögernd an.
»Ich schenke uns ein, Sam«, sagte Julia lachend und verscheuchte sie mit einer Handbewegung. »Ich bin ja nicht die Queen. Noch nicht.« Sie zwinkerte Cassandra zu. »Zucker?«
»Danke, gern.«
Julia füllte zwei Tassen mit Tee, der kaum gezogen hatte, reichte Cassandra eine, trank einen Schluck aus ihrer Tasse und fuhr fort. »Es war bitterkalt an jenem Heiligabend. Ein Sturm fegte vom Meer her und wütete auf der Landzunge. Der Strom war ausgefallen, und unser Truthahn vergammelte im warmen Eisschrank. Wir konnten uns nicht erinnern, wo wir die Schachtel mit den frischen Kerzen hingelegt hatten, und waren gerade dabei, in einem der oberen Zimmer danach zu suchen. Plötzlich wurde das Zimmer von einem Blitz taghell erleuchtet - und da haben wir die Wand entdeckt.« Sie rieb sich die Lippen in Vorfreude auf die eigene Pointe. »In der Wand befand sich ein Loch.«
»Ein Mauseloch?«
»Nein, ein viereckiges Loch.«
Cassandra runzelte verständnislos die Stirn.
»Da fehlte ein Stein im Gemäuer«, erklärte Julia. »Ein Loch in der Wand, wie ich es mir als Kind immer erträumt habe, wenn
mein Bruder mal wieder meine Tagebücher entdeckt hatte. Es war hinter der Tapete verborgen gewesen, die der Maler einige Tage zuvor abgerissen hatte.« Sie schlürfte an ihrem Tee. »Ich weiß, das klingt albern, aber dieses Versteck zu finden, wirkte wie ein Glücksbringer. So als hätte das Haus gesagt: ›Also gut, ihr habt euch hier lange genug abgerackert. Ihr habt bewiesen, dass ihr es ernst meint, ihr könnt bleiben.‹ Und ich sage Ihnen, von dem Zeitpunkt an ging alles viel leichter. Ihre Großmutter kam und wollte unbedingt das Cliff Cottage kaufen, ein Mann namens Bobby Blake brachte unsere Gartenanlage in Ordnung, und dann begannen einige Busunternehmen damit, uns Touristen zum Nachmittagstee zu bringen.«
Sie schwelgte lächelnd in der Erinnerung, sodass es Cassandra beinahe leidtat, sie zu unterbrechen. »Aber was haben Sie denn dort gefunden? Was befand sich in dem Versteck?«
Julia blinzelte.
»War es etwas, das Rose gehört hat?«
»Ja.« Julia schluckte vor Aufregung. »Ja, ganz genau. Eine Sammlung von Tagebüchern, mit einem Bändchen zusammengehalten. Eins für jedes Jahr von 1900 bis 1913.«
»Tagebücher?«
»Viele junge Mädchen führten damals Tagebuch. Ein Hobby, das von den Sittenwächtern der damaligen Zeit freimütig geduldet wurde - eins der wenigen! Es war eine Form der Selbstverwirklichung, die es einer jungen Dame erlaubte, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, ohne dass man fürchten musste, dass sie ihre Seele an den Teufel verkaufte.« Sie schüttelte den Kopf. »Also, Roses Tagebücher unterscheiden sich nicht sonderlich von denen, die man im Museum oder auf Dachböden im ganzen Land findet - sie sind voll mit Stofffetzen, Zeichnungen, Bildchen, Einladungen, kleinen Anekdoten -, aber als ich sie fand, habe ich mich so sehr mit dieser jungen Frau identifiziert, die vor hundert Jahren hier gelebt hat, mit ihren Hoffnungen,
Träumen und Enttäuschungen, dass ich sie in mein Herz geschlossen habe. Für mich ist sie wie ein Schutzengel, der über uns wacht.«
»Sind die Tagebücher noch hier?«
Julia nickte schuldbewusst. »Eigentlich hätte ich sie längst einem Museum oder einem Heimatverein vermachen sollen, aber ich bin ziemlich abergläubisch und kann mich nicht davon trennen. Eine Zeit lang hatte ich sie in der Eingangshalle ausgestellt, in einer der Vitrinen, aber jedes Mal, wenn mein Blick darauf fiel, bekam ich ein schlechtes Gewissen, als hätte ich etwas ganz Persönliches öffentlich zugänglich gemacht. Jetzt befinden sie sich in einer Schachtel, die ich in meinem Zimmer aufbewahre, und warten auf eine bessere Verwendung.«
»Dürfte ich sie mir ansehen?«
»Selbstverständlich, meine Liebe. Sie werden sie zu sehen bekommen.« Julia schenkte Cassandra ein strahlendes Lächeln. »Ich erwarte eine Reisegruppe innerhalb der nächsten halben Stunde, und Robyn hat meinen Terminkalender für den Rest der Woche mit
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