Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
das Gemälde.«
Rose Mountrachet war im Alter von achtzehn Jahren tatsächlich ausgesprochen schön gewesen: weiße Haut, die dunkle Haarpracht zu einem losen Zopf zusammengebunden, und der volle Busen nach damaliger Mode zur Geltung gebracht. Sargent war für seine Fähigkeit bekannt, die Persönlichkeit seiner Modelle erfasst und wiedergegeben zu haben, und Roses Blick war schwermütig. Die roten Lippen entspannt und leicht geöffnet, aber die Augen wachsam auf den Künstler gerichtet. Der ernste Gesichtsausdruck einer jungen Frau, die wegen ihrer kränklichen Natur ihre ganze Kindheit über ans Haus gefesselt war, dachte Cassandra.
Sie beugte sich vor. Die Komposition des Porträts war interessant. Rose saß auf einem Sofa, ein Buch auf dem Schoß. Das Sofa stand in einem solchen Winkel zum Betrachter, dass Rose auf der rechten Seite in den Vordergrund gerückt war; die Wand hinter ihr war mit grüner Tapete bedeckt, sonst gab es keinen Wandschmuck. Die Art, wie die Wand dargestellt war, ließ die junge Frau blass und zart erscheinen, eher impressionistisch im Gegensatz zu dem Realismus, für den Sargent bekannt war. Es war durchaus vorgekommen, dass Sargent gewisse impressionistische Techniken angewandt hatte, aber dieses Gemälde wirkte irgendwie leichter als seine anderen Arbeiten.
»Ist sie nicht eine Schönheit?«, sagte Julia, die vom Rezeptionstresen herüberkam.
Cassandra nickte gedankenversunken. Das Bild stammte aus dem Jahr 1906, bald danach hatte der Künstler der Porträtmalerei abgeschworen. Ob es ihm vielleicht schon zu jener Zeit Verdruss bereitet hatte, die Gesichter der Wohlhabenden abzubilden?
»Wie ich sehe, hat sie Sie bereits in ihren Bann gezogen. Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum wir sie unbedingt als unseren Hausgeist anwerben wollten.« Sie lachte, dann fiel ihr auf, dass Cassandra ernst blieb. »Alles in Ordnung? Sie wirken ein bisschen blass. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«
Cassandra schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es ist einfach das Bild …« Sie presste die Lippen zusammen. Dann hörte sie sich sagen: »Rose Mountrachet war meine Urgroßmutter.«
Julia schaute sie verblüfft an.
»Ich habe es erst kürzlich erfahren.« Cassandra lächelte verlegen. Auch wenn es die Wahrheit war, kam sie sich vor wie eine Schauspielerin in einer billigen Seifenoper. »Verzeihen Sie. Es ist das erste Mal, dass ich ein Bild von ihr sehe. Es kommt alles ein bisschen plötzlich.«
»Ach, meine Liebe«, sagte Julia. »Ich sage es nur ungern, aber ich fürchte, da liegt ein Irrtum vor. Rose kann gar nicht Ihre Urgroßmutter sein, sie kann niemandes Urgroßmutter sein. Ihre einzige Tochter ist als ganz kleines Kind gestorben.«
»An Scharlach.«
»Das arme kleine Ding, gerade mal vier Jahre alt …« Sie warf Cassandra einen Seitenblick zu. »Wenn Sie von der Krankheit wissen, müsste Ihnen doch auch bekannt sein, dass Roses Tochter gestorben ist.«
»Ja, das ist die offizielle Version, aber ich weiß, dass sie nicht der Wahrheit entspricht. So kann es gar nicht gewesen sein.«
»Ich habe den Grabstein auf dem Friedhof des Anwesens
gesehen«, entgegnete Julia sanft. »Sehr poetische Inschrift und sehr traurig. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen das Grab zeigen.«
Cassandra spürte, wie sie errötete, wie immer, wenn sich eine Auseinandersetzung anbahnte. »Es mag ja sein, dass es einen Grabstein gibt, aber in dem Grab liegt kein kleines Mädchen. Jedenfalls nicht Ivory Mountrachet.«
In Julias Gesichtsausdruck spiegelten sich abwechselnd Neugier und Besorgnis. »Erzählen Sie weiter.«
»Als meine Großmutter einundzwanzig war, hat sie erfahren, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern waren.«
»Sie war ein Adoptivkind?«
»Mehr oder weniger. Sie wurde in einem Hafen in Australien an einem Kai aufgefunden, da war sie vier Jahre alt und hatte nichts bei sich als einen kleinen Kinderkoffer. Aber erst mit fünfundsechzig hat sie von ihrem Vater diesen Koffer ausgehändigt bekommen und konnte endlich anfangen, Nachforschungen über ihre Vergangenheit anzustellen. Sie ist nach England gereist, hat mit den verschiedensten Leuten gesprochen und Informationen gesammelt. All das hat sie in einem Tagebuch festgehalten.«
Julia lächelte wissend. »Das Sie jetzt besitzen.«
»Genau. Deshalb weiß ich auch, dass sie herausgefunden hat, dass Roses Tochter nicht gestorben ist.«
Julias blaue Augen musterten Cassandra. Ihre Wangen waren leicht gerötet. »Aber wenn
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