Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
betrachtet wurde, konnte Eliza nicht beeindrucken. In den Wandschrank unter der Treppe gesperrt zu werden, verschaffte ihr lediglich Zeit und Ruhe, sich wieder neue Geschichten auszudenken. Ihr neue Kleider zu verweigern - was für Rose tatsächlich eine Strafe wäre -, würde Eliza nicht einmal ein Seufzen entlocken. Sie war vollkommen damit zufrieden, Roses abgelegte Kleider aufzutragen. In Bezug auf Strafen war sie wie die Heldin in einer ihrer Geschichten geschützt durch einen Feenzauber. Mamas vergebliche Bemühungen hinsichtlich der Bestrafungen mitzuerleben, verschaffte Rose klammheimliches Vergnügen. Jede Zurechtweisung wurde von Eliza mit einem unschuldigen Blick, einem sorglosen Achselzucken und einem ungerührten »Ja, Tante« quittiert. So als könnte sich Eliza tatsächlich nicht vorstellen, dass ihr Verhalten irgendwie anstößig war. Vor allem das Achselzucken trieb Mama zur Weißglut. Sie hatte längst jede Hoffnung aufgegeben, Rose könne Eliza zu einer jungen Dame erziehen, und war schon froh, dass es Rose gelungen war, ihre Cousine zu halbwegs angemessener Kleidung zu überreden. (Rose hatte Mamas Lob angenommen und ihre innere Stimme zum Schweigen gebracht, die ihr zuflüsterte, dass Eliza sich erst von ihrer schäbigen Hose getrennt hatte, als diese ihr nicht mehr passte.) Etwas in Eliza sei zerbrochen, meinte Mama, wie eine Spiegelscherbe in einem Teleskop, die ein korrektes Funktionieren unmöglich machte. Und Eliza davon abhielt, sich zu schämen, wie es sich gehörte. Elizas Gerede von Magie und Feengestalten war Öl auf Mamas Feuer: Sie sei ein gottloses Kind, schimpfte sie, was ja kein Wunder sei bei einem Mädchen, das in heidnischen Verhältnissen aufgewachsen sei.
Als hätte sie Roses Gedanken gelesen, bewegte sich Eliza neben ihr auf dem Sofa. Sie hatten fast eine Stunde still gesessen, und allmählich regte sich ihr Widerstand. Mehrere Male hatte Mr Sargent sie ermahnen müssen, nicht die Stirn zu runzeln und die Position beizubehalten, während er arbeitete. Rose hatte am Tag zuvor mitgehört, wie er sich bei Mama beklagt hatte, dass das Bild längst fertig wäre, wenn dieses Mädchen mit den roten Haaren lange genug still sitzen könnte.
Mama hatte sich angewidert geschüttelt, als er das sagte. Sie hätte lieber nur Rose porträtieren lassen, aber Rose hatte ihren Willen durchgesetzt: Eliza sei ihre Cousine, ihre einzige Freundin, selbstverständlich müsse sie mit auf das Porträt. Und dann hatte Rose noch ein bisschen gehustet, während sie Mama unter ihren Wimpern hindurch beobachtete, und das Thema war erledigt.
Rose genoss es, Mama zu ärgern, aber als sie darauf bestanden hatte, sich gemeinsam mit Eliza porträtieren zu lassen, war das tatsächlich ihr aufrichtiger Wunsch gewesen. Bevor ihre Cousine zu ihnen ins Haus kam, hatte sie nie eine Freundin gehabt. Es hatte sich keine Gelegenheit dazu geboten, und selbst wenn, was hätte ein Mädchen, das nicht mehr lange zu leben hatte, von Freundinnen gehabt? Wie die meisten Kinder, die an körperliches Leiden gewöhnt sind, war auch Rose der Auffassung, dass sie nur wenig mit anderen Mädchen ihres Alters gemein hatte. Sie hatte weder Interesse daran, mit Reifen zu spielen, noch Puppenhäuser einzurichten. Es langweilte sie, sich lang und breit über ihre Lieblingsfarbe, -zahl und -musik zu unterhalten.
Aber ihre Cousine Eliza war nicht wie die anderen Mädchen. Das hatte Rose sofort gemerkt, als sie sie kennenlernte. Eliza hatte eine Art, die Welt zu sehen, die Rose immer wieder verblüffte. Sie tat immer wieder völlig unerwartete Dinge. Dinge, die Mama auf die Palme brachten.
Das Beste an Eliza, noch besser als ihre Fähigkeit, Mama zu ärgern,
war allerdings ihre Gabe zu erzählen. Sie kannte so viele wunderbare Geschichten, die Rose noch nie gehört hatte. Beängstigende Geschichten, die ihr heiße und kalte Schauer über die Haut jagten. Sie handelten von der anderen Cousine, dem Fluss in London und von einem bösen Mann mit einem blitzenden Messer. Und natürlich von dem schwarzen Schiff, das in der Bucht von Blackhurst sein Unwesen trieb. Auch wenn Rose wusste, dass Eliza sich das alles nur ausgedacht hatte, ließ sie sich diese Geschichte besonders gern erzählen. Das Phantomschiff, das manchmal am Horizont auftauchte, das Schiff, das Eliza angeblich mit eigenen Augen gesehen hatte und auf dessen Erscheinen sie an den vielen Sommertagen, die sie in der Bucht verbrachte, stundenlang wartete.
Das Einzige, was Rose
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