Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
gestritten, ungefähr zum hundertsten Mal an jenem Tag, und war in den Garten gegangen, um mich zu beruhigen. Nicht auszudenken, wie lange sie sonst dort gehangen hätte.«
»Wollte sie sich das Haus ansehen?«
Julia nickte. »Sie sagte, sie sei Antiquitätenhändlerin und interessiere sich für Dinge aus der viktorianischen Epoche, und fragte, ob sie einen Blick ins Haus werfen dürfte.«
Bei der Vorstellung, wie Nell, entschlossen zu bekommen, was sie wollte, über Mauern kletterte und Halbwahrheiten erzählte, wurde Cassandra ganz warm ums Herz.
»Ich habe ihr gesagt, sobald sie genug davon hätte, in der Glyzinie herumzuturnen, könne sie gern hereinkommen.« Julia lachte. »Das Haus befand sich in einem ziemlich miserablen Zustand, es hatte jahrzehntelang leer gestanden, und nachdem Dan und ich mit den Renovierungsarbeiten angefangen hatten, sah es noch schlimmer aus als vorher, aber das schien Ihrer Großmutter überhaupt nichts auszumachen. Sie ist herumgegangen, hat sich jedes einzelne Zimmer angesehen. Es war, als versuchte sie, sich alles genau einzuprägen.«
Oder es sich in Erinnerung zu rufen. Cassandra fragte sich, wie viel Nell Julia über den wahren Grund ihres Interesses an dem Haus erzählt haben mochte. »Haben Sie ihr auch das Cottage gezeigt?«
»Nein, aber ich habe ihr davon erzählt, darauf können Sie Gift nehmen. Und dann habe ich ein Stoßgebet gen Himmel geschickt und uns alle verfügbaren Daumen gedrückt.« Sie lachte. »Wir suchten damals verzweifelt nach einem Käufer! Wir steuerten auf die Pleite zu, als hätten wir ein Loch unter das Haus gegraben und jeden Penny, den wir besaßen, hineingeworfen. Wissen Sie, wir hatten das Cottage schon eine ganze Zeit lang zum Verkauf angeboten. Zweimal haben wir mit Interessenten aus London verhandelt, die ein Ferienhaus suchten, aber beide Male kam es nicht zum Vertrag. Einfach Pech. Dann sind wir mit dem Preis runtergegangen, aber niemand wollte das Haus haben, nicht für Geld und gute Worte. Eine unbezahlbare Aussicht, aber wegen irgendwelcher albernen, alten Gerüchte hat sich keiner dafür interessiert.«
»Robyn hat mir davon erzählt.«
»Irgendwas stimmt nicht mit Ihrem Häuschen, womöglich spukt es sogar darin«, sagte Julia gut gelaunt. »Wir haben hier im Hotel unseren eigenen Hausgeist. Aber das wissen Sie ja, denn wie ich höre, haben Sie schon Bekanntschaft mit ihm gemacht.«
Cassandra stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben, als Julia fortfuhr: »Samantha von der Rezeption hat mir berichtet, Sie hätten einen Schlüssel in Ihrer Tür gehört.«
»Ach so«, erwiderte Cassandra. »Ja. Ich dachte erst, es wäre ein anderer Gast gewesen, aber es war wohl der Wind. Ich wollte kein Aufhebens …«
»Das war unser Hausgeist.« Julia musste über Cassandras verblüfften Gesichtsausdruck lachen. »Keine Sorge, er, oder besser gesagt sie, ist völlig harmlos. Sie ist kein böser Geist. So einen würden wir uns hier nicht halten.«
Cassandra hatte das Gefühl, dass Julia sie auf den Arm nahm. Andererseits hatte sie seit ihrer Ankunft in Cornwall mehr von Geistern reden hören als auf ihrer ersten Pyjamaparty, an der sie im Alter von zwölf Jahren teilgenommen hatte. »Ich nehme an, jedes alte Haus braucht einen Geist«, sagte sie.
»Richtig«, erwiderte Julia. »Die Leute erwarten das. Ich hätte glatt einen erfinden müssen, wäre da nicht schon einer gewesen. In so einem historischen Hotel ist ein eigener Hausgeist genauso wichtig für die Gäste wie saubere Handtücher.« Sie beugte sich vor. »Unserer hat sogar einen Namen: Rose Mountrachet. Die Mountrachets haben früher hier gewohnt, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Na ja, vorher natürlich auch, wenn man bedenkt, dass es sich immerhin um eine Familie mit einer jahrhundertealten Geschichte handelt. Im Foyer neben dem Bücherregal hängt ein Porträt von ihr, die junge Frau mit der blassen Haut und den dunklen Haaren. Haben Sie es gesehen?«
Cassandra schüttelte den Kopf.
»Sie müssen es sich unbedingt ansehen«, sagte Julia. »John Singer Sargent hat es gemalt, einige Jahre, nachdem er die Schwestern Wyndham porträtiert hat. Was für eine Schönheit sie war, unsere Rose, und so ein tragisches Leben! Ein kränkliches Kind, das schließlich gesund geworden ist, nur um dann mit vierundzwanzig Jahren bei einem schrecklichen Unfall ums Leben zu kommen.« Sie seufzte theatralisch. »Sind Sie schon mit dem Frühstück fertig? Dann kommen Sie mit, ich zeige Ihnen
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