Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Festivalvorbereitungen gespickt. Wie wär’s am Freitag mit einem Abendessen in meiner Wohnung? Danny wird in London sein, und wir machen uns einen gemütlichen Frauenabend. Dann können wir in Roses Tagebüchern schmökern und dabei jede Menge Tränen vergießen. Was halten Sie davon?«
»Großartig«, erwiderte Cassandra und lächelte ein wenig unsicher. Es war das erste Mal, dass jemand sie zum gemeinsamen Weinen einlud.
30 Blackhurst Manor Cornwall, 1907
Vorsichtig darauf bedacht, ihre Position nicht zu verändern und sich nicht den Zorn des Künstlers zuzuziehen, senkte Rose den Blick, sodass sie die jüngst begonnene Seite ihres Tagebuchs betrachten konnte. Sie hatte die ganze Woche lang daran gearbeitet, immer wenn Mr Sargent ihr eine Ruhepause vom Modellsitzen gönnte. Sie hatte ein Stückchen der blassrosa Seide von ihrem Geburtstagskleid und einen Schnipsel von ihrer Haarschleife eingeklebt, und darunter hatte sie in ihrer schönsten Handschrift die Zeilen aus einem Gedicht von Tennyson verewigt: Wer sah das Winken ihrer Hand und wer, dass sie am Fenster stand? Ist sie denn überall bekannt? Die Dame von Shalott.
Wie sehr sich Rose mit der Dame von Shalott identifizierte! Verdammt dazu, eine Ewigkeit in ihren Gemächern zu verbringen, immer dazu gezwungen, die Welt nur aus der Ferne zu erleben. War sie selbst, Rose, nicht auch fast ihr ganzes Leben eingesperrt gewesen?
Aber die Zeiten waren vorbei! Rose hatte einen Entschluss gefasst: Sie würde sich nicht länger von den düsteren Prognosen eines Dr. Matthews und der allgegenwärtigen Sorge ihrer Mutter ans Bett fesseln lassen. Zwar war sie nach wie vor anfällig, aber mittlerweile hatte sie begriffen, dass Schwäche krank machte, dass nichts so sehr zu Schwindel und Unwohlsein führte wie immerwährendes erstickendes Eingesperrtsein. Sie würde die Fenster öffnen, wenn ihr warm war - vielleicht würde sie sich erkälten, vielleicht aber auch nicht. Sie wollte ein normales Leben führen, heiraten, Kinder bekommen und alt werden. Und endlich, an ihrem achtzehnten Geburtstag, würde sie einen Blick auf ihr Camelot werfen können. Mehr noch: Sie würde Camelot erkunden. Denn nach jahrelangem Flehen und Betteln hatte Mama
endlich nachgegeben. Heute, zum ersten Mal seit fünf Jahren, würde Rose Eliza in die Bucht von Blackhurst begleiten dürfen.
Seit sie vor sechs Jahren nach Blackhurst gekommen war, erzählte Eliza ihr Geschichten von der Bucht. Wenn Rose in ihrem warmen, dunklen Zimmer lag und die abgestandene Luft ihrer jüngsten Krankheit einatmete, platzte Eliza ins Zimmer, und Rose konnte beinahe das Meer auf ihrer Haut riechen. Dann legte sie sich neben Rose, drückte ihr eine Muschel, einen vertrockneten Tintenfisch oder einen Kieselstein in die Hand und fing an zu erzählen, bis Rose das blaue Meer vor sich sah, die warme Brise in ihren Haaren fühlte und den heißen Sand unter ihren Füßen spürte.
Manche der Geschichten dachte Eliza sich selbst aus, andere schnappte sie woanders auf. Das Dienstmädchen Mary hatte Brüder, die zur See fuhren, und Rose hatte den Verdacht, dass Mary lieber schwatzte anstatt zu arbeiten. Natürlich nicht mit Rose, aber bei Eliza war das etwas anderes. Alle Dienstboten behandelten Eliza anders. Ziemlich ungebührlich, fast so, als wähnten sie sich als ihre Freunde.
Seit einiger Zeit argwöhnte Rose, dass Eliza sich außerhalb des Anwesens herumtrieb, vielleicht sogar mit Fischern im Dorf sprach, denn ihre Geschichten hatten eine andere Färbung bekommen. In ihnen wimmelte es neuerdings von Schiffen und Reisen übers Meer, von Nixen und versunkenen Schätzen, von Abenteuern in fernen Ländern. Sie bediente sich nicht nur einer anschaulicheren Sprache, die Rose insgeheim genoss, sondern in ihren Augen lag ein überzeugenderer Ausdruck als zuvor, so als hätte sie die verruchten Begebenheiten, von denen sie berichtete, selbst erlebt.
Auf jeden Fall wäre Mama außer sich vor Wut, wenn sie erführe, dass Eliza im Dorf gewesen war und sich unter das gemeine Volk gemischt hatte. Es ärgerte Mama bereits genug, dass Eliza mit dem Dienstpersonal redete - schon allein deswegen war
Rose bereit, Elizas Freundschaft mit Mary zu ertragen. Käme Mama auf die Idee, Eliza zu fragen, wohin sie ginge, würde Eliza sicherlich nicht lügen, wobei fraglich blieb, was Mama tun konnte. Obwohl sie es seit sechs Jahren versuchte, hatte sie keine Strafe gefunden, die Eliza aufzuhalten vermochte.
Dass ihr Verhalten als ungehörig
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