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Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden

Titel: Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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eins von Roses Kleidern der vorigen Saison - Spitze, die kratzte, Satin, der an der Haut klebte, und ein Rotton, dass Eliza sich wie eine verpackte Erdbeere vorkam. Was für eine sinnlose Zeitverschwendung, einen ganzen Vormittag mit einem mürrischen alten Mann zu verbringen, der sie auf die Leinwand bannen wollte, nur damit sie wie all die anderen einsam an irgendeiner kühlen Wand aufgehängt werden konnte.
    Eliza ließ sich auf Hände und Knie fallen und spähte unter ihr Bett. Hob die Ecke der Fußbodendiele an, die sie schon vor langer Zeit gelöst hatte. Langte in den Hohlraum und zog die Geschichte hervor: Der goldene Käfig . Ließ ihre Hand über den schwarz-weißen Umschlag gleiten und spürte die Abdrücke ihrer Handschrift unter ihren Fingerspitzen.
    Davies hatte sie auf die Idee gebracht, ihre Geschichten aufzuschreiben. Sie hatte ihm dabei geholfen, neue Rosen zu pflanzen, als ein grau-weißer Vogel mit gestreiften Schwanzfedern sich auf einem niedrig hängenden Zweig in der Nähe niedergelassen hatte.
    »Ein Kuckuck«, hatte Davies gesagt. »Der überwintert in Afrika und kehrt im Frühling hierher zurück.«
    »Ich wünschte, ich wäre ein Vogel«, hatte Eliza erwidert. »Dann würde ich an der Klippe Anlauf nehmen und losfliegen. Nach Afrika oder Indien. Oder nach Australien.«
    »Australien?«

    Dieses Land beflügelte neuerdings ihre Fantasie. Marys ältester Bruder war kürzlich mit seiner jungen Familie dorthin ausgewandert. Sie wohnten jetzt in einem Ort namens Maryborough, wo ihre Tante Eleanor sich einige Jahre zuvor angesiedelt hatte. Mary gefiel die Vorstellung, dass über diese familiäre Verbindung hinaus auch der Name für die Wahl des Orts ausschlaggebend gewesen war, und sie ließ sich nicht zweimal bitten, Einzelheiten über dieses exotische Land zu erzählen, das in einem fernen Ozean auf der anderen Seite des Erdballs schwamm. Eliza hatte Australien im Unterrichtsraum auf einer Landkarte gefunden, ein merkwürdiger, riesiger Kontinent im Indischen Ozean mit zwei Ohren, einem aufgestellten und einem abgeknickten.
    »Ich kenne einen, der nach Australien gegangen ist«, sagte Davies und unterbrach kurz seine Arbeit. »Hat sich eine Farm mit tausend Morgen Land gekauft, nur um dann festzustellen, dass auf dem Land da überhaupt nichts wächst.«
    Eliza biss sich auf die Lippe, um ihre Erregung im Zaum zu halten. Diese Extreme passten zu ihrem Bild von dem Land. »Mary sagt, es gibt dort Riesenkarnickel. Sie heißen Kängurus und haben Füße so lang wie Männerbeine.«
    »Ich weiß nicht, was Sie an einem solchen Ort anfangen würden, Miss Eliza. Und auch nicht in Afrika oder in Indien.«
    Eliza wusste genau, was sie dort anfangen würde. »Ich werde Geschichten sammeln. Uralte Geschichten, von denen hier noch nie jemand etwas gehört hat. Ich werde es wie die Gebrüder Grimm machen, von denen ich Ihnen erzählt habe.«
    Davies runzelte die Stirn. »Warum Sie unbedingt so sein wollen wie diese grimmigen alten Deutschen, geht mir über den Verstand. Sie sollten Ihre eigenen Geschichten aufschreiben, nicht die von anderen.«
    Und das hatte sie getan. Als Erstes hatte sie eine Geschichte für Rose geschrieben, ein Geburtstagsgeschenk, ein Märchen über eine Prinzessin, die durch Zauberei in einen Vogel verwandelt
worden war. Es war die erste Geschichte, die sie auf Papier festgehalten hatte, und es war ganz eigenartig gewesen, ihre Gedanken und Ideen in schriftlicher Form vor sich zu sehen. Ihre Haut fühlte sich plötzlich ungewöhnlich empfindlich an, irgendwie entblößt und verletzlich. Der Wind kam ihr kühler vor, die Strahlen der Sonne wärmer. Sie wusste nicht recht, ob ihr das Gefühl angenehm war oder ob es sie störte.
    Aber Rose hatte Elizas Geschichten immer geliebt, und da ein Märchen das Beste war, was Eliza zu geben hatte, war es das perfekte Geschenk. Denn in den Jahren, seit man Eliza aus ihrem einsamen Leben in London herausgeholt und in das großartige und mysteriöse Blackhurst gebracht hatte, waren Rose und Eliza Seelenverwandte geworden. Sie hatten gemeinsam gelacht und geträumt, und nach und nach hatte Rose Sammys Platz eingenommen, hatte das tiefe, schwarze Loch ausgefüllt, das zurückbleibt, wenn ein Zwilling stirbt. Und es gab nichts, was Eliza nicht für Rose tun, was sie ihr nicht geben oder für sie schreiben würde.

    DER GOLDENE KÄFIG
Von Eliza Makepeace
     
     
    Vor langer, langer Zeit, als die Welt noch von Magie erfüllt war, lebte einmal eine

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