Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
wieder weckte. Die ganze Woche über, während sie Seite an Seite mit Christian gearbeitet hatte, war es ihr gelungen, den Traum zu verdrängen, und sie hatte schon geglaubt, sie wäre ihn losgeworden.
»Und jetzt sind Sie diejenige, die den Garten wieder in Ordnung bringt. Wie wunderbar. Was Rose wohl sagen würde, wenn sie das wüsste?« Julia zog ein Papiertaschentuch aus einer Schachtel neben dem Sessel und schnäuzte sich die Nase. »Verzeihen Sie«, sagte sie, während sie sich die Augen wischte. »Es ist einfach alles so romantisch.« Sie musste lachen. »Schade, dass Sie nicht auch einen Davies haben, der Ihnen bei der Arbeit hilft.«
»Er ist zwar kein Davies, aber es gibt jemanden, der mir hilft«, sagte Cassandra. »Seit einer Woche kommt er jeden Nachmittag und packt mit an. Ich habe ihn und seinen Bruder Michael kennengelernt, als sie einen umgestürzten Baum weggeschafft haben. Ich glaube, sie kennen die beiden. Robyn Jameson meinte, die Brüder würden auch Ihre Gartenanlagen pflegen.«
»Ach, die Brüder Blake. Ja, das stimmt allerdings, und ich muss gestehen, es ist eine Freude, ihnen bei der Arbeit zuzusehen. Dieser Michael ist ein ziemlicher Charmeur, nicht wahr? Wenn ich nicht aufgehört hätte, Bücher zu schreiben, würde Michael mir als Vorbild für einen Frauenheld dienen.«
»Und Christian?« Obwohl sie sich sehr bemühte, die Frage ganz beiläufig klingen zu lassen, spürte Cassandra, wie sie errötete.
»Der wäre in meinem Roman auf jeden Fall der jüngere, klügere, stillere Bruder, der am Ende alle mit seinem Mut überrascht und das Herz der Heldin gewinnt.«
Cassandra lächelte. »Welche Rolle ich in Ihrem Buch spielen würde, frage ich lieber erst gar nicht.«
»Dafür sage ich Ihnen, welche Rolle mir zufallen würde.« Julia stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich wäre die alternde Schönheit,
die sowieso keine Chance hat, den Helden für sich zu gewinnen, und deshalb der Heldin zu ihrem Glück verhilft.«
»Das Leben wäre so viel einfacher, wenn alles wie im Märchen verlaufen würde«, sagte Cassandra, »und jeder seine festgelegte Rolle hätte.«
»Aber genauso ist es doch, wir glauben nur alle, es wäre nicht so. Selbst wer steif und fest behauptet, dass so etwas wie eine festgelegte Rolle nicht existiert, entspricht einem Klischee: dem des trockenen Pedanten, der auf seine Einzigartigkeit pocht!«
Cassandra trank einen Schluck Wein. »Sie glauben also nicht, dass es so etwas wie Einzigartigkeit gibt?«
»Jeder ist einzigartig, nur auf andere Weise, als wir uns das vorstellen.« Julia lächelte und machte eine Handbewegung, die ihre Armbänder zum Klimpern brachte. »Gott, wenn man mich reden hört - natürlich gibt es unterschiedliche Charaktere. Christian Blake zum Beispiel, der ist gar nicht Gärtner von Beruf, wissen Sie. Er arbeitet in Oxford im Krankenhaus. Hat er jedenfalls bis vor Kurzem. Er ist Arzt, mit welchem Fachgebiet, hab ich vergessen. Die Bezeichnungen für die einzelnen Fachärzte sind so kompliziert, dass man sie sich kaum merken kann, nicht wahr?«
Cassandra richtete sich auf. »Wie kommt denn ein Arzt dazu, Bäume zu fällen?«
»Genau das frage ich mich auch. Als Michael mir mitteilte, dass sein Bruder neuerdings für ihn arbeiten würde, habe ich keine Fragen gestellt, aber neugierig hat es mich schon gemacht. Was bringt einen jungen Mann dazu, so mir nichts dir nichts den Beruf zu wechseln?«
Cassandra schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat er es sich einfach anders überlegt?«
Julia legte den Kopf schief. »Ziemlich extreme Entscheidung, würde ich sagen.«
»Vielleicht ist ihm irgendwann klar geworden, dass ihm der Arztberuf keinen Spaß macht.«
»Möglich, aber darauf hätte er doch in all den Jahren des Studiums schon kommen können.« Julia lächelte hintersinnig. »Ich glaube, sein Berufswechsel hat einen ganz anderen Grund. Allerdings war ich mal Schriftstellerin, und alte Angewohnheiten sind hartnäckig. Ich kann nicht verhindern, dass meine Fantasie immer wieder mit mir durchgeht.« Sie zeigte auf Cassandra, ohne ihr Ginglas abzustellen. »Geheimnisse, meine Liebe, machen einen Menschen interessant.«
Cassandra musste an Nell denken und an die Geheimnisse, die sie gewahrt hatte. Wie hatte sie das aushalten können, endlich herauszufinden, wer sie war, und keiner Menschenseele davon zu erzählen? »Ich wünschte, meine Großmutter hätte die Tagebücher lesen können, bevor sie starb. Sie hätten ihr so viel bedeutet, es wäre
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