Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
mich erwartet, wenn Nathaniel und ich verheiratet sind. Genauer gesagt, was wohl von mir erwartet wird. Ach, wie mir die Wangen glühen, wenn ich an solche Fragen nur denke! Niemals würde ich es wagen, sie auszusprechen. (Wenn ich mir vorstelle, was Mama für ein Gesicht machen würde!)
Leider habe ich bei Mr Hardy nicht die erhofften Antworten gefunden. Ich hatte die Stelle falsch in Erinnerung - Tess’ Entehrung wird nicht sehr detailreich beschrieben. Es ist also nicht zu ändern. Wenn mir kein anderer einfällt, an den ich mich Rat suchend wenden kann (weder Mr James noch Mr Dickens werden mir helfen
können), bleibt mir nichts anderes übrig, als mich blind in diesen dunklen Abgrund zu stürzen. Meine größte Angst ist, dass Nathaniel Grund haben könnte, meinen Bauch zu betrachten. Ich kann nur hoffen, dass das nicht der Fall ist. Eitelkeit ist eine Sünde, ich weiß, aber ich kann mir nicht helfen. Denn meine Male sind so hässlich, und er liebt doch meine helle Haut so sehr.
Cassandra las die letzten Zeilen noch einmal. Was konnten das für Male sein, von denen Rose schrieb? Muttermale vielleicht? Oder Narben? Hatte irgendetwas anderes in dem Tagebuch gestanden, das einen Hinweis darauf geben konnte? Sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie konnte sich einfach nicht erinnern. Es war zu spät am Abend, und sie war inzwischen so müde, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.
Sie gähnte, rieb sich die Augen und schlug das Tagebuch zu. Wahrscheinlich würde sie es nie erfahren, und vielleicht spielte es auch gar keine Rolle. Noch einmal befühlte Cassandra den weichen Ledereinband, genau wie Rose es sicherlich immer wieder getan hatte, dann legte sie das Tagebuch auf ihrem Nachttisch ab und schaltete das Licht aus. Schloss die Augen und glitt in einen vertrauten Traum über hohes Gras, eine endlose Wiese und plötzlich, unerwartet, ein Haus auf einer Klippe am Meer.
36 Pilchard Cottage Tregenna, 1975
Nell wartete vor der Tür, überlegte, ob sie noch einmal klopfen sollte. Sie stand jetzt schon seit fünf Minuten hier, und allmählich kam ihr der Verdacht, dass William Martin nichts von ihrer bevorstehenden Anwesenheit an seinem Abendbrottisch
ahnte, dass die Einladung nichts weiter war als eine List von Robyn, mit der sie wiedergutmachen wollte, was bei der letzten Begegnung schiefgelaufen war. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Robyn zu der Sorte Menschen gehörte, die Missstimmungen, egal, welche Ursache sie haben mochten, einfach nicht ertragen konnten.
Nell klopfte noch einmal. Setzte eine unbekümmerte Miene auf für den Fall, dass irgendeiner von Williams Nachbarn sich über diese merkwürdige Frau wundern sollte, die den ganzen Abend lang vor der Tür stand und klopfte.
Schließlich machte William selbst ihr auf. Mit einem Küchentuch über der Schulter und einem hölzernen Kochlöffel in der Hand sagte er: »Ich habe gehört, Sie haben das Cottage gekauft.«
»Gute Nachrichten verbreiten sich schnell.«
Er musterte sie mit zusammengekniffenen Lippen. »Sie sind verdammt stur, das hab ich meilenweit gegen den Wind gerochen.«
»So hat der Herrgott mich nun mal gemacht.«
Er nickte und schnaubte. »Also, dann kommen Sie mal rein, sonst erfrieren Sie mir noch.«
Nell schälte sich aus ihrer regendichten Jacke und hängte sie an einen Haken. Dann folgte sie William ins Wohnzimmer.
Küchendämpfe erfüllten das ganze Haus, und es roch zugleich appetitlich und widerlich. Nach Fisch und Salz und noch irgendetwas.
»Ich habe einen Topf Fischsuppe auf dem Herd stehen«, sagte William und schlurfte in die Küche. »Hab Sie bei all dem Blubbern und Brutzeln nicht klopfen hören.« Lautes Klappern von Töpfen und Pfannen, dann ein Fluchen. »Robyn wird gleich hier sein.« Erneutes Geklapper. »Hat sich von diesem Kerl aufhalten lassen.«
Die letzten Worte kamen ziemlich verächtlich. Nell ging in die
Küche und sah ihm zu, wie er in der dicken Suppe rührte. »Sie mögen Robyns Verlobten nicht besonders?«
Er legte den Rührlöffel ab, tat den Deckel auf den Topf und nahm seine Pfeife. Klaubte ein Stückchen Tabak vom Rand des Pfeifenkopfs. »Nein, an dem Mann ist nichts auszusetzen. Außer dass er nicht vollkommen ist.« Während er mit einer Hand seinen gekrümmten Rücken stützte, ging er ins Wohnzimmer. »Haben Sie Kinder? Enkelkinder?«, fragte er, als er sich an Nell vorbeischob.
»Eine Tochter, eine Enkelin.«
»Na, dann wissen Sie ja, wovon ich
Weitere Kostenlose Bücher