Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
stecken blieb, ging Cassandra zurück zum Haus. Mum und Nell saßen immer noch drinnen - sie konnte ihre Gestalten undeutlich durch das Fliegengitter erkennen -, und so folgte sie dem Weg weiter um das Haus herum. In der seitlichen Wand befand sich eine große, hölzerne Schiebetür auf Rollen, und als Cassandra am Griff zog, öffnete sich ein kühler, großer Raum unter dem Haus.
Die Dunkelheit bildete einen derart krassen Kontrast zu dem grellen Sonnenlicht, dass es schien, als würde sie die Schwelle zu einer anderen Welt überschreiten. Mit vor Aufregung klopfendem Herzen trat Cassandra ein und schaute sich um. Der Raum war groß, aber Nell hatte keine Mühe gescheut, ihn zu füllen. An
drei Wänden waren Kartons und Kisten unterschiedlicher Größe vom Boden bis zur Decke gestapelt, und an der vierten Wand lehnten lauter Fenster und Türen, deren Scheiben teilweise zerbrochen waren. Die einzige freie Stelle befand sich vor einer Tür in der hinteren Wand, die in das Zimmer führte, das Nell »das Souterrain« nannte. Als Cassandra hineinspähte, sah sie, dass es etwa die Größe eines Schlafzimmers hatte. An zwei Wänden lehnten behelfsmäßige Regale voller alter Bücher, an der hinteren Wand stand ein Klappbett mit einem rot-weißen Quilt als Überwurf. Durch ein kleines Fenster fiel etwas Licht in das Zimmer, aber jemand hatte ein paar Bretter davorgenagelt. Wahrscheinlich zum Schutz gegen Einbrecher, dachte Cassandra. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, was ein Einbrecher in so einem Zimmer suchen könnte.
Am liebsten hätte Cassandra sich auf das Bett gelegt, den kühlen Quilt auf der Haut gespürt, aber Nell hatte sich deutlich ausgedrückt - sie dürfe unten spielen, aber auf keinen Fall das Souterrain betreten -, und Cassandra war ein gehorsames Mädchen. Anstatt in das Zimmer zu gehen und sich auf dem Bett auszustrecken, machte sie kehrt und ging zu der Stelle, wo vor langer Zeit einmal ein Kind ein Himmel-und-Hölle-Spiel auf den Betonboden gemalt hatte. Sie sah sich nach einem passenden Stein um, legte mehrere nach eingehender Prüfung wieder beiseite und entschied sich schließlich für einen, der ziemlich glatt war und keine unregelmäßigen Ecken hatte, die ihn aus der Bahn bringen würden.
Cassandra warf den Stein - er landete perfekt in der Mitte des ersten Rechtecks - und begann zu hüpfen. Sie war bei Nummer sieben angekommen, als die Stimme ihrer Großmutter scharf wie eine Glasscherbe durch die Decke zu ihr nach unten drang. »Was bist du nur für eine Mutter?«
»Keine schlechtere, als du eine gewesen bist.«
Cassandra blieb mitten in einem Rechteck auf einem Bein stehen
und lauschte. Es war Stille eingekehrt, zumindest, soweit Cassandra das beurteilen konnte. Wahrscheinlich hatten sie nur die Stimmen gesenkt, weil ihnen eingefallen war, dass die Nachbarn zu beiden Seiten nur wenige Meter weit entfernt wohnten. Wenn Len und Lesley sich stritten, wies Len Cassandras Mutter jedes Mal darauf hin, dass Fremde nicht unbedingt von ihren Problemen erfahren mussten. Dass Cassandra jedes Wort mitbekam, schien die beiden dagegen nicht zu stören.
Cassandra begann zu wackeln, verlor das Gleichgewicht und setzte den zweiten Fuß ab. Aber nur für eine Sekunde, dann hob sie ihn gleich wieder. Selbst Tracy Waters, die unter den Fünftklässlern in dem Ruf stand, die strengste Himmel-und-Hölle-Schiedsrichterin zu sein, hätte das durchgehen lassen und ihr erlaubt weiterzuspielen, aber Cassandra war die Lust vergangen. Der Tonfall ihrer Mutter hatte sie beunruhigt und machte ihr Bauchweh.
Sie stieß ihren Stein mit dem Fuß fort und gab das Spiel auf.
Um wieder nach draußen zu gehen, war es zu heiß. Am allerliebsten würde sie ein Buch lesen, in den Zauberwald entfliehen, auf den Traumbaum klettern oder mit den Fünf Freunden eine Schmugglerhöhle erforschen. Sie dachte an ihr Buch, das sie am Morgen neben dem Kopfkissen hatte liegen lassen. Dumm von dir, es nicht mitzunehmen, hörte sie im Geist Lens Stimme sagen, wie immer, wenn sie etwas Törichtes getan hatte.
Dann fielen ihr die alten Bücher in Nells Souterrain ein. Nell hätte doch bestimmt nichts dagegen, wenn sie sich eins aus dem Regal nahm und darin las. Sie würde sehr vorsichtig sein und nichts in Unordnung bringen.
Im Souterrain roch es muffig nach altem Staub. Cassandra ließ ihren Blick über die roten, grünen und gelben Buchrücken wandern auf der Suche nach einem Titel, der ihre Neugier weckte. Auf dem dritten
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