Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Kaffee?«
Cassandra schüttelte entgeistert den Kopf. Sie war zwar im Mai zehn geworden, aber sie war immer noch ein kleines Mädchen und nicht daran gewöhnt, dass Erwachsene ihr Erwachsenengetränke anboten.
»Ich habe weder Saft noch Limo«, erklärte Nell, »noch sonst irgendwelche neumodischen Getränke.«
Cassandra fand ihre Sprache wieder. »Ich trinke gern Milch.«
Nell blinzelte. »Die steht im Kühlschrank, ich habe immer welche für die Katzen im Haus. Die Flasche ist wahrscheinlich glitschig, lass sie nicht auf den Boden fallen.«
Nachdem der Tee eingeschenkt war, schickte Lesley ihre Tochter nach draußen. Es sei ein sonniger Tag, da sollten Kinder nicht in der Stube hocken, sagte sie. Grandma Nell fügte hinzu, sie könne unten spielen, ermahnte sie jedoch, nichts anzurühren und auf keinen Fall das Souterrain zu betreten.
Seit Tagen herrschte eine für die südliche Hemisphäre typische trockene Hitzewelle, bei der man das Gefühl hat, die Tage gehen ohne Unterbrechung ineinander über. Ventilatoren bewegen lediglich die heiße Luft ein bisschen, Zikaden verbreiten einen ohrenbetäubenden Lärm, allein das Atmen ist schon anstrengend, und man möchte am liebsten nur auf dem Rücken liegen und warten, bis der Januar und der Februar vorübergehen, die
Märzgewitter endlich einsetzen und die ersten Aprilstürme aufkommen.
Aber das wusste Cassandra nicht. Sie war ein Kind und besaß die kindliche Unempfindlichkeit gegen extreme Klimaschwankungen. Es würde noch zehn Jahre dauern, bis die unerträgliche, erstickende Hitze des australischen Sommers ihr zu schaffen machte.
Sie ließ die Fliegengittertür hinter sich zuschlagen und ging in den Garten. Jasminblüten, die von den Sträuchern gefallen waren, lagen überall schwarz und vertrocknet auf dem Weg. Cassandra zertrat sie mit den Füßen und genoss es, wie sich schwarze Schmierflecken auf dem hellen Beton bildeten.
Sie setzte sich auf die schmiedeeiserne Gartenbank, ganz oben am Ende des kleinen Grundstücks, und fragte sich, wie lange sie sich wohl allein in dem seltsamen Garten ihrer geheimnisvollen Großmutter beschäftigen sollte. Sie betrachtete das Haus. Worüber mochten ihre Mutter und Großmutter sich gerade unterhalten, und warum waren sie ausgerechnet heute zu Besuch gekommen? Egal, wie oft sie die Fragen im Kopf hin und her wendete, von wie vielen Seiten aus sie sie auch betrachtete, sie fand einfach keine Antwort darauf.
Nach einer Weile konnte sie der Anziehungskraft des Gartens nicht länger widerstehen. Sie vergaß ihre Fragen und begann unter den wachsamen Augen einer schwarzen Katze, prall gefüllte Samenkapseln von Fleißigen Lieschen zu ernten. Als sie eine ordentliche Menge beisammen hatte, kletterte sie, die Kapseln in der Hand, auf den niedrigsten Ast des Mangobaums, der neben der Bank stand, und begann, sie eine nach der anderen aufzubrechen. Es gefiel ihr, die kühlen, feuchten Samenkörner auf der Haut zu spüren, und sie amüsierte sich über die Katze, die jedes Mal, wenn eine leere Kapsel zwischen ihren Pfoten landete, glaubte, eine Heuschrecke vor sich zu haben, und diese zu fangen versuchte.
Nachdem alle Kapseln verbraucht waren, wischte Cassandra sich die Hände an den Shorts ab und ließ den Blick schweifen. Auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns stand ein großes, weißes Gebäude. Es war das Kino von Paddington, aber Cassandra wusste, dass es geschlossen war. Irgendwo in der Nähe betrieb ihre Großmutter einen Secondhandladen. Bei einem ihrer unangekündigten Besuche in Brisbane war Cassandra schon einmal da gewesen. Lesley hatte sie dort abgeliefert, weil sie irgendjemanden treffen wollte, und Nell ließ sie zum Zeitvertreib ein silbernes Teeservice polieren. Es hatte Cassandra großen Spaß gemacht, den Geruch des Silberputzmittels einzuatmen und zuzusehen, wie das Tuch sich schwarz färbte und das Silber zu glänzen begann. Nell hatte ihr sogar erklärt, was die Stempel bedeuteten, ein Löwe bedeutete Sterling, ein Leopardenkopf stand für London, und ein Buchstabe gab das Herstellungsjahr an. Es war wie ein geheimer Code. Als sie wieder zu Hause waren, hatte Cassandra überall nach etwas aus Silber gesucht, das sie für Lesley polieren könnte, aber nichts gefunden. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, wie viel Freude ihr diese Tätigkeit bereitet hatte.
Als die Sonne hoch am Himmel stand, die Mangoblätter in der Hitze schlaff zu werden begannen und den Elstern ihr Gekrächze im Hals
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