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Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden

Titel: Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Sie hatte ihn sofort bemerkt, und Linus war ganz warm ums Herz geworden. Ihre großen Augen, ihre leicht geöffneten Lippen, wie ein Tier, dem plötzlich der Fluchtweg abgeschnitten ist.
    Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Linus das Foto in der Entwicklerflüssigkeit. Da war sie. Ihr weißes Kleid, die schmale Taille - ach, wie sehnte er sich danach, seine Hände um
ihre Taille zu legen, ihren ängstlich flatternden Atem unter den Rippenbögen zu spüren. Und dieser Hals, der blasse Hals, unter dessen zarter Haut ihr Blut sichtbar pulsierte, ganz wie bei ihrer Mutter. Linus schloss die Augen und dachte an den Hals seiner Schwester mit der schmalen roten Narbe. Auch sie hatte versucht, ihn zu verlassen.
    Als sie ihn damals zum letzten Mal aufgesucht hatte, war er in der Dunkelkammer gewesen. Er war gerade dabei, Passepartouts für seine neueste Fotosammlung zu schneiden: Grashüpfer aus den westlichen Grafschaften. Die Fotos hatten ihn begeistert, er hatte sogar überlegt, seinen Vater zu fragen, ob er ihm eine kleine Ausstellung gestatten würde, und er war so in seine Arbeit vertieft, dass er normalerweise keine Störung geduldet hätte. Aber für Georgiana hatte er immer Zeit.
    Wie ätherisch, wie vollkommen sie aussah, als sie plötzlich in der Tür stand, das Gesicht vom Schein der Gaslampe beleuchtet. Sie legte einen Finger an die Lippen, zum Zeichen, dass er schweigen möge, dann zog sie leise die Tür hinter sich zu. Langsam kam sie auf ihn zu, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Die Heimlichkeit erregte ihn zutiefst, allein mit seiner Schwester zu sein, gab ihm ein aufreizendes Gefühl von Verschwörung, außergewöhnlich für Linus, der kaum Zeit für andere hatte. Für den andere kaum Zeit hatten.
    »Du wirst mir doch helfen, Linus, nicht wahr?«, fragte sie ihn mit großen Augen, ohne zu ahnen, wie sehr sie ihn quälte. Dann erzählte sie ihm von einem Mann, den sie kennengelernt hatte, einem Seemann. Sie liebten sich, sagte sie, würden heimlich zusammen fortgehen, er würde ihr doch ganz bestimmt helfen? Diese flehenden Augen, unfähig, seinen Schmerz zu erfassen. Ihm war, als würde die Zeit stehen bleiben, ihre Worte drehten sich in seinem Kopf, dehnten sich aus und zogen sich wieder zusammen, wurden lauter und wieder leiser, ein ganzes Leben in Einsamkeit tat sich vor ihm auf.

    Ohne nachzudenken, hob er die Hand mit dem Federmesser, zog es über ihre milchweiße Haut, ließ sie seinen Schmerz spüren …
     
     
     
    Mit einer Pinzette hielt Linus den Abzug unters Licht. Kniff die Augen zusammen, blinzelte. Verflucht! Wo Elizas Gesicht hätte sein sollen, war nur ein verschwommener, grau-weißer Fleck zu sehen. Sie hatte sich genau in dem Augenblick bewegt, als er den Auslöser betätigte. Er war nicht schnell genug gewesen, und sie war ihm unter der Fingerspitze entwischt. Linus ballte die Faust. Erinnerte sich wie immer in Momenten extremer Frustration an das kleine Mädchen, das in der Bibliothek auf dem Fußboden gesessen und ihm seine Puppe und damit die Verheißung ihres eigenen Körpers dargeboten hatte. Und das ihn dann enttäuscht hatte.
    Egal. Es war ein kleiner Rückschlag, weiter nichts, eine vorübergehende Komplikation in dem Spiel, das sie miteinander spielten, dem Spiel, das er schon mit ihrer Mutter gespielt hatte. Damals hatte er verloren. Nach dem Vorfall mit dem Federmesser war seine Georgiana verschwunden und nie wieder zurückgekehrt. Aber diesmal würde er umsichtiger vorgehen.
    Was auch immer es ihn kosten würde, wie lange er auch würde warten müssen, diesmal würde Linus sein Ziel erreichen.
     
     
     
    Rose zupfte nacheinander alle weißen Blütenblätter von einem Gänseblümchen: Junge, Mädchen, Junge, Mädchen, Junge, Mädchen. Lächelnd umschloss sie das goldene Herz des Gänseblümchens mit der Hand. Eine kleine Tochter für sie und Nathaniel, und später vielleicht noch ein Sohn und noch eine Tochter und noch ein Sohn.

    Seit sie denken konnte, wünschte Rose sich eine eigene Familie. Eine ganz andere als die von Kälte und Einsamkeit bestimmte Familie, die sie als Kind gekannt hatte, bis Eliza nach Blackhurst gekommen war. Das Verhältnis zwischen den Eltern würde von Nähe geprägt sein und, ja, auch von Liebe, und ihre vielen Kinder würden sich gut miteinander vertragen und aufeinander aufpassen.
    Das alles wünschte sie sich, aber sie hatte auch schon genug Gespräche unter erwachsenen Damen mitbekommen, um zu wissen, dass Kinder ein Segen waren,

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