Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Gartenanlagen und dem Labyrinth und konnte ihrem Garten nicht dieselbe Aufmerksamkeit und Liebe schenken wie Eliza. »Was wird nur aus dir werden?«, sagte sie leise.
Als sie den Apfelbaum betrachtete, durchfuhr sie ein stechender Schmerz, als würde ihr das Herz brechen. Sie musste an den
Tag denken, als sie den Baum zusammen mit Rose gepflanzt hatte. Damals waren sie so voller Hoffnung gewesen, so voller Überzeugung, dass alles gut werden würde. Allein der Gedanke, dass Rose nicht mehr auf dieser Welt weilte, war Eliza unerträglich.
Plötzlich fiel ihr etwas auf. Ein Stück Stoff zwischen dem Laub unter dem Apfelbaum. Hatte sie ein Taschentuch hier vergessen? Sie hockte sich hin und schob den tief hängenden Ast beiseite.
Ein kleines Mädchen, Roses Tochter, lag schlafend im Gras.
Als besäße sie einen sechsten Sinn, rührte sich die Kleine mit einem Mal, öffnete die Augen und schaute Eliza an.
Sie erschrak nicht, noch zeigte sie irgendeine andere Reaktion, die man von einem Kind hätte erwarten können, das von einem beinahe fremden Erwachsenen erwischt wird, sondern lächelte entspannt. Dann gähnte sie und kam unter dem Ast hervorgekrochen.
»Guten Tag«, sagte sie, als sie vor Eliza stand.
Eliza betrachtete sie, zugleich erstaunt und erfreut darüber, wie wenig das Kind sich um Manieren scherte. »Was machst du denn hier?«
»Ich lese.«
Eliza hob die Brauen. Das Kind war erst vier. »Du kannst schon lesen?«
Nach kurzem Zögern nickte Ivory.
»Zeig’s mir.«
Auf allen vieren krabbelte Ivory zurück unter den Ast und kam gleich darauf mit dem Märchenbuch zurück. Es war das Märchenbuch, das Eliza ihr vor zwei Wochen als Geschenk gebracht hatte. Ivory schlug das Buch auf und las fehlerfrei die erste Seite von Die Augen des alten Weibleins vor, wobei sie mit dem Zeigefinger die Zeilen entlangfuhr.
Eliza unterdrückte ein Lächeln, als ihr auffiel, dass die Fingerspitze und die vorgelesenen Worte nicht übereinstimmten. Als kleines Mädchen hatte sie auch alle ihre Lieblingsmärchen
auswendig gekannt. »Und warum bist du jetzt hier?«, fragte sie.
»Alle sind weggefahren«, antwortete Ivory. »Ich hab vom Fenster aus gesehen, wie all die vielen, schwarzen Kutschen die Einfahrt hinuntergefahren sind wie dicke Ameisen auf einer Ameisenstraße. Ich wollte nicht allein im Haus bleiben, und da bin ich hergekommen. Hier bin ich am liebsten. In deinem Garten.« Schuldbewusst senkte sie den Blick.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte Eliza.
»Du bist die Autorin.«
Eliza lächelte.
Ivory wurde mutiger. Sie legte den Kopf schief, sodass ihr dicker Zopf über ihre Schulter fiel. »Warum bist du so traurig?«
»Weil ich Abschied nehme.«
»Von wem denn?«
»Von meinem Garten. Von meinem alten Leben.« Eliza war wie gebannt von Ivorys forschendem Blick. »Ich breche zu einer Abenteuerreise auf. Magst du Abenteuer?«
Ivory nickte. »Ich gehe auch bald auf eine Abenteuerreise mit meiner Mama und meinem Papa. Wir fahren nach Amerika, auf einem riesengroßen Schiff, noch größer als das von Captain Ahab.«
»Nach New York?« Eliza zögerte. War es denn möglich, dass Ivory gar nichts vom Tod ihrer Eltern wusste?
»Wir fahren über das Meer, und Großmama und Großpapa kommen nicht mit. Und auch nicht die schreckliche kaputte Puppe.«
War das der richtige Augenblick? War das der Punkt, von dem es kein Zurück mehr gab? Eliza schaute das ernste kleine Mädchen an, das nicht wusste, dass seine Eltern tot waren, dem ein Leben unter der Vormundschaft von Tante Adeline und Onkel Linus bevorstand.
Wenn Eliza später noch einmal an die Situation zurückdachte,
kam es ihr so vor, als wäre es gar nicht ihre Entscheidung gewesen, als hätte das Leben die Entscheidung schon vorher für sie getroffen. Auf jeden Fall war ihr sofort klar gewesen, dass sie das Kind unmöglich allein auf Blackhurst zurücklassen konnte.
Sie streckte ihre Hand aus, betrachtete ihre auf das Kind gerichtete Handfläche, die von allein zu wissen schien, was sie zu tun hatte. »Ich habe von eurer Abenteuerreise gehört, und man hat mich geschickt, um dich abzuholen.« Die Worte kamen ihr ganz leicht über die Lippen, als gehörten sie zu einem lange vorbereiteten Plan, als entsprächen sie der Wahrheit. »Ich begleite dich ein Stück.«
Ivory blinzelte.
»Komm«, sagte Eliza. »Nimm meine Hand. Wir nehmen einen ganz besonderen Weg, einen geheimen Weg, den nur wir beide kennen.«
»Und wo wir hingehen, wartet Mama da auf
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