Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
gut auskannte wie Davies.
»Dann hol Miss Eliza her«, sagte Adeline widerwillig. »Und bring sie sofort zu mir.«
Eliza betrachtete das schlafende Kind. Lange Wimpern lagen auf den weichen Wangen, die rosigen Lippen waren zu einem niedlichen Schmollmund verzogen, die kleinen Fäuste im Schoß. Wie vertrauensselig Kinder waren, dass sie in einer solchen Situation schlafen konnten, und wie verletzlich. Vor Rührung kamen Eliza beinahe die Tränen.
Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, mit Roses Kind in einen Zug nach London zu steigen?
Nichts, gar nichts hatte sie gedacht, und deswegen hatte sie es getan. Denn Nachdenken bedeutete, den Farbpinsel des Zweifels in das klare Wasser der Gewissheit zu tauchen. Sie war sich ganz sicher gewesen, dass sie Ivory auf keinen Fall in der Obhut von Onkel Linus und Tante Adeline zurücklassen konnte, und sie hatte entsprechend gehandelt. Sie hatte bei Sammy versagt, aber Ivory würde sie nicht im Stich lassen.
Die Frage war nur, was sie jetzt mit Ivory tun sollte, denn bei sich behalten konnte sie sie auf keinen Fall. Die Kleine hatte etwas Besseres verdient. Sie brauchte Eltern, Geschwister, ein glückliches Zuhause voller Zuneigung, an das sie sich ihr Leben lang gern erinnern würde.
Und doch hatte Eliza das Gefühl, dass ihr nichts anderes übrig bliebe, als sie mitzunehmen. Ivory durfte nicht in der Nähe von Cornwall bleiben, sonst bestand die Gefahr, dass man sie entdecken und schnurstracks nach Blackhurst zurückbringen würde.
Nein, bis ihr eine bessere Lösung einfiel, würde sie das Kind bei sich behalten. Zumindest vorerst. Es blieben noch fünf Tage Zeit, bis das Schiff nach Australien ablegte, das Schiff, das sie nach
Maryborough bringen würde, wo Marys Bruder und ihre Tante Eleanor lebten. Mary hatte ihr die Adresse gegeben, und Eliza hatte vor, nach ihrer Ankunft sofort Kontakt zur Familie Martin aufzunehmen. Und natürlich würde sie Mary schreiben und ihr berichten, was sie getan hatte.
Eliza besaß bereits eine Fahrkarte, sie hatte die Überfahrt unter falschem Namen gebucht. Es mochte abergläubisch sein, aber als sie die Reservierung vorgenommen hatte, war sie ganz plötzlich von dem Gedanken besessen gewesen, dass sie für einen Neuanfang, für einen klaren Bruch mit ihrer Vergangenheit, einen neuen Namen brauchte. Sie wollte in dem Buchungsbüro keine Spur hinterlassen, keine Verbindung zwischen ihrer alten und ihrer neuen Welt. Und deswegen hatte sie ein Pseudonym benutzt. Was sich jetzt als Glücksfall erwies.
Denn sie würden bestimmt nach ihr suchen. Eliza wusste zu viel über die Herkunft von Roses Kind, als dass Tante Adeline sie einfach so davonkommen lassen konnte. Sie musste sich darauf einstellen, dass sie sich würde verstecken müssen, am besten in einem kleinen Gasthaus in der Nähe des Hafens, wo man einer armen Witwe mit ihrem Kind, die zu ihren Verwandten in der Neuen Welt reiste, ein Zimmer vermieten würde. Ob es wohl möglich war, so kurzfristig noch eine Fahrkarte für das Kind zu kaufen? Oder gab es eine Möglichkeit, das Kind mit an Bord zu nehmen, ohne dass jemand es bemerkte?
Ivory würde nach ihren Eltern fragen, und Eliza würde ihr eines Tages die Wahrheit sagen. Auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie ihr alles erklären sollte. Ihr war aufgefallen, dass die Seiten mit dem Märchen, das ihr die Situation hätte begreiflich machen können, aus dem Buch herausgetrennt worden waren. Wahrscheinlich hatte Nathaniel sie entfernt. Rose und Adeline hätten das ganze Buch verschwinden lassen, nur Nathaniel konnte das eine Märchen, in dem seine Taten angedeutet wurden, herausgerissen und das Buch aufgehoben haben.
Zu den Swindells würde sie als Allerletztes gehen. Zwar glaubte sie nicht, dass sie eine Gefahr darstellten, aber sie wollte sich lieber vorsehen. Wenn es eine Möglichkeit gab, aus etwas Profit zu schlagen, würden die Swindells sie sich nicht entgehen lassen. Irgendwann hatte Eliza überlegt, auf den Besuch bei den Swindells zu verzichten, hatte sich gefragt, ob das Risiko nicht viel zu groß war, doch dann hatte sie sich entschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Sie würde die Edelsteine aus der Brosche brauchen, um in der Neuen Welt nicht mittellos dazustehen, außerdem waren die geflochtenen Haare viel zu kostbar. Sie waren ihre Familie, ihre Vergangenheit, ihre Verbindung zu sich selbst.
Noch einmal betrachtete Eliza das schlafende Kind. Zärtlich streichelte sie seine Wange. Zog die Hand
Weitere Kostenlose Bücher