Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
sie, wie ihre Glieder steif und schwer wurden. Mit der Zeit legte sich eine Staubschicht über alle Gegenstände in der Hütte und über die reglose Jungfrau selbst. Da hörte sie sogar auf zu blinzeln und schloss die Augen, während sie in der Kälte und Stille versank.
Einige Jahre später begab es sich, dass die Prinzessin zusammen mit ihrer Zofe am Waldrand entlangritt. Die Prinzessin, die lange Jahre krank im Bett gelegen hatte, war auf wundersame Weise genesen und hatte einen schönen, jungen Prinzen geheiratet. Sie lebte glücklich und zufrieden, ging im Schlossgarten spazieren, tanzte auf den Bällen, die im Schloss stattfanden, und erfreute sich bester Gesundheit. Sie gebar eine Tochter, die von allen geliebt wurde und reinen Honig aß und den Tau von Rosenblüten trank und mit kostbaren Schmetterlingen spielte.
Als die Prinzessin und ihre Zofe nun an jenem Tag am Waldrand entlangritten, verspürte die Prinzessin plötzlich den unwiderstehlichen Wunsch, in den Wald einzudringen. Sie hörte nicht auf die Warnungen ihrer Zofe und lenkte ihr Pferd in den kalten, dunklen Wald. Tiefe Stille herrschte dort, kein Vogel, kein Tier und kein noch so zarter Hauch störten die kühle Luft, und nur das Getrappel ihres Pferdes war zu hören.
Nach einer Weile gelangten sie an eine Lichtung mit einer von
Dornenranken überwucherten Hütte. »Was für ein hübsches kleines Haus«, rief die Prinzessin aus. »Wer mag wohl darin wohnen?«
Die Zofe, die vor Kälte zitterte, wandte sich ab. »Niemand, Prinzessin. Das Königreich blüht, aber es gibt kein Leben mehr im Wald.«
45 Cliff Cottage Cornwall, 1913
Eliza wusste, dass sie die Küste und das Meer vermissen würde. Natürlich würde sie auch dort eine Küste und ein Meer vorfinden, aber alles würde anders sein. Andere Pflanzen, andere Vögel und andere Wellen würden ihre Geschichten in fremden Zungen flüstern. Aber es wurde Zeit abzureisen. Sie hatte lange genug gewartet, ohne einen triftigen Grund dafür zu haben. Was geschehen war, war geschehen, und auch wenn sie im Moment so sehr von Schuldgefühlen geplagt wurde, dass es ihr den Schlaf raubte und sie sich innerlich dafür verfluchte, an dem ganzen Täuschungsmanöver überhaupt teilgenommen zu haben, blieb ihr jetzt nichts anderes übrig, als zu handeln.
Zum letzten Mal ging Eliza die schmalen steinernen Stufen zum Pier hinunter. Ein Fischer war noch dabei, Körbe und Taurollen auf seinen Kutter zu laden, ehe er auslief. Als sie näher kam, erkannte sie das sonnengebräunte Gesicht. Es war William, Marys Bruder. Er war der Jüngste unter den Fischern, aber er hatte sich durch seinen Mut und seine Tollkühnheit hervorgetan, und überall an der Küste erzählte man sich von seinen Taten.
William und Eliza waren einmal befreundet gewesen, damals hatte er sie mit seinen haarsträubenden Geschichten vom Leben auf See fasziniert, aber seit einigen Jahren schon gingen sie einander aus dem Weg. Seit William beobachtet hatte, was er
nicht hätte sehen sollen, und er von ihr verlangt hatte, dass sie ihm das Unerklärliche erklärte. Es war schon sehr lange her, dass sie miteinander gesprochen hatten, und er hatte Eliza gefehlt. Entschlossen, vor ihrer Abreise aus Tregenna reinen Tisch zu machen, holte sie tief Luft und trat auf ihn zu. »Du bist spät dran heute, Will.«
Er blickte auf und rückte seine Mütze zurecht. Seine wettergegerbten Wangen erröteten, und er antwortete steif: »Und du kommst sehr früh.«
»Ich bin halt eine Frühaufsteherin.« Eliza stand inzwischen direkt vor dem Kutter. Die Wellen schlugen sanft gegen den Rumpf, und die Luft roch salzig. »Hast du etwas von Mary gehört?«
»Seit letzter Woche nicht. Sie fühlt sich immer noch wohl drüben in Polperro, ist eine richtige Metzgersfrau geworden und kocht den ganzen Tag Würste.«
Eliza lächelte. Sie freute sich zu hören, dass es Mary gut ging. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, hatte sie das weiß Gott verdient. »Das höre ich gern, Will. Ich werde ihr heute Nachmittag einen Brief schreiben.«
Stirnrunzelnd betrachtete Will seinen Fuß, während er gegen die Kaimauer trat.
»Was ist?«, fragte Eliza. »Hab ich was Komisches gesagt?«
William verscheuchte zwei gierige Möwen, die sich über seine Köder hermachen wollten.
»Will?«
Er schaute Eliza aus dem Augenwinkel an. »Nein, nichts Komisches, Miss Eliza, nur … Ich freue mich zu sehen, dass es Ihnen gut geht, aber ich muss gestehen, dass ich mich ein bisschen
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