Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Angelegenheit.«
Dass dem Tod offizielle Angelegenheiten folgten, wunderte Cassandra nicht, und dennoch fühlte sie sich unangenehm überrascht, und ihr wurde leicht schwindlig.
»Nell hat mich vor Jahren gebeten, ihr Testament aufzusetzen. Du weißt ja, wie sie war, sie wollte ihre persönlichen Angelegenheiten keinem Fremden anvertrauen.«
Cassandra nickte. Typisch Nell.
Ben zog einen weißen Umschlag aus der Innentasche seines Blazers. Er sah alt aus und war an den Ecken vergilbt.
»Es ist schon eine ganze Weile her, dass sie ihr Testament gemacht hat.« Blinzelnd betrachtete er den Umschlag. »Genauer gesagt, es war 1981.« Er schwieg, als wartete er auf einen Kommentar. Als sie nichts sagte, fuhr er fort: »Im Großen und Ganzen ziemlich eindeutig abgefasst.« Er nahm den Inhalt aus dem Umschlag, ohne einen Blick darauf zu werfen, beugte sich vor und stützte sich mit den Armen auf den Knien ab, Nells Testament in der rechten Hand. »Deine Großmutter hat dir alles vermacht, Cass.«
Cassandra war nicht überrascht. Gerührt vielleicht und ganz plötzlich und seltsamerweise einsam, aber nicht überrascht. Wem sonst hätte Nell etwas vererben sollen? Sicherlich nicht Lesley. Cassandra hegte schon lange keinen Groll mehr auf ihre Mutter, Nell dagegen hatte ihr nie verziehen. Ein Kind im Stich zu lassen,
hatte sie einmal zu Tante Phyllis gesagt, als sie glaubte, Cassandra sei außer Hörweite, sei gefühlskalt und gedankenlos und absolut unverzeihlich.
»Das Haus natürlich, etwas Geld auf dem Sparkonto und die Antiquitäten.« Ben zögerte und musterte Cassandra, als versuchte er einzuschätzen, ob sie das, was noch auf sie zukommen sollte, verkraften würde. »Und noch etwas.« Er warf einen Blick auf die Papiere in seiner Hand. »Nachdem deine Großmutter letztes Jahr ihre Diagnose erfahren hatte, hat sie mich eines Morgens zum Tee eingeladen.«
Cassandra erinnerte sich daran. Als sie an dem Morgen mit dem Frühstück ins Zimmer gekommen war, hatte Nell ihr erklärt, sie erwarte Ben zu Besuch und wolle mit ihm unter vier Augen sprechen. Und dann, obwohl sie schon seit Jahren keine aktive Rolle mehr an dem Stand spielte, hatte sie Cassandra gebeten, im Antiquitätenmarkt ein paar Bücher für sie zu katalogisieren.
»An dem Tag hat sie mir etwas gegeben«, sagte Ben. »Einen versiegelten Umschlag. Sie hat mich gebeten, ihn zu ihrem Testament zu legen und erst zu öffnen, wenn … wenn sie …« Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. »Na, du weißt schon.«
Cassandra nickte und erschauerte leicht, als eine kühle Brise ihre Arme streifte.
Ben wedelte mit den Papieren, sagte jedoch nichts.
»Worum geht’s denn?«, fragte Cassandra, während sich ein vertrauter Knoten in ihrer Magengegend bemerkbar machte. »Du kannst es mir ruhig sagen, ich verkrafte das schon.«
Überrascht blickte er auf und brach zu ihrer Verblüffung in lautes Lachen aus. »Keine Sorge, Cass, es ist nichts Schlimmes. Eigentlich im Gegenteil.« Er überlegte. »Eher ein Rätsel als eine Katastrophe.«
Cassandra atmete hörbar aus. Dass er jetzt auch noch anfing,
von Rätseln zu sprechen, trug nicht gerade zu ihrer Entspannung bei.
»Ich habe getan, worum sie mich gebeten hat, und den Umschlag weggelegt. Erst gestern habe ich ihn geöffnet - und bin fast in Ohnmacht gefallen.« Er lächelte und hob eine buschige Braue. »Zum Vorschein kam die Besitzurkunde für ein weiteres Haus.«
»Wessen Haus?«
»Nells.«
»Nell hat kein zweites Haus.«
»Offenbar doch. Und jetzt gehört es dir.«
Cassandra mochte keine Überraschungen, sie kamen ihr allzu plötzlich. Während sie früher noch Unerwartetes hatte über sich ergehen lassen, löste mittlerweile schon die bloße Andeutung auf der Stelle Panik in ihr aus, eine körperliche Reaktion auf unerwartete Veränderungen. Sie hob ein vertrocknetes Blatt auf, das neben ihrem Fuß lag, und faltete es nachdenklich wieder und wieder zur Hälfte.
In all den Jahren, die sie zusammengelebt hatten, als Cassandra aufgewachsen war, und auch später, nachdem sie zurückgekehrt war, hatte Nell nie ein anderes Haus erwähnt. Warum nicht? Warum hätte sie so etwas geheim halten sollen? Und warum hätte sie sich ein zweites Haus kaufen sollen? Als Geldanlage? In den Cafés an der Latrobe Terrace hatte Cassandra schon häufig Leute über steigende Immobilienpreise, Kapitalanlagen und dergleichen diskutieren hören, aber Nell? Nell hatte sich immer nur über die städtischen Yuppies lustig
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