Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
langsam entfernenden Motorengeräusch. Seine Anteilnahme, so lieb sie gemeint sein mochte, schien immer irgendwie einen Vorwurf zu beinhalten. Die Enttäuschung darüber, dass sie unfähig - oder nicht willens - gewesen war, wieder ganz die Alte zu werden. Ihm schien gar nicht in den Sinn zu kommen, dass es ihre Entscheidung gewesen war, so zu bleiben. Dass das, was er als Reserviertheit und Einsamkeit auffasste, für Cassandra Selbsterhaltung bedeutete, dass sie sich sicherer fühlte, wenn sie weniger zu verlieren hatte.
Sie scharrte mit der Schuhspitze auf dem Betonweg und schob die traurigen alten Gedanken beiseite. Dann nahm sie die Besitzurkunde
noch einmal in die Hand. Zum ersten Mal fiel ihr der kleine Notizzettel auf, der an die vordere obere Ecke geheftet war. Etwas in Nells zittriger Handschrift stand darauf, fast unleserlich. Cassandra hielt sich den Zettel dichter vor die Augen, dann wieder ein Stück weiter weg, und entzifferte ganz langsam die einzelnen Wörter. Für Cassandra, stand da. Sie wird verstehen, warum.
8 Brisbane Australien, 1975
Nell überprüfte noch einmal kurz ihre Papiere - Pass, Flugticket, Reiseschecks - dann, nachdem sie den Reißverschluss ihrer Reisetasche zugezogen hatte, tadelte sie sich selbst innerlich. Also wirklich, das war allmählich lächerlich, wie sie sich aufführte. Jeden Tag verreisten Leute, das war allgemein bekannt. Sie ließen sich in gigantische Konservendosen pferchen, an ihren Sitzen festschnallen und in den Himmel katapultieren. Nell holte tief Luft. Es würde alles gut gehen. Schließlich war sie eine Kämpfernatur.
Noch einmal machte sie einen Rundgang durchs Haus, kontrollierte alle Fenster, vergewisserte sich, dass sie in der Küche das Gas abgestellt, die Tür des abgetauten Kühlschranks geöffnet und alle Stecker herausgezogen hatte. Dann endlich trug sie ihre beiden Koffer zur Hintertür hinaus und verriegelte das Haus. Natürlich wusste sie genau, warum sie nervös war, und sie fürchtete nicht nur, dass sie irgendetwas vergessen hatte oder das Flugzeug vom Himmel fallen könnte. Sie war nervös, weil sie nach Hause fuhr. Nach all den Jahren, an ihrem Lebensabend, fuhr sie endlich nach Hause.
Am Ende war alles so plötzlich gekommen. Hamish, ihr Vater,
war erst seit zwei Wochen tot, und schon war sie dabei, die Tür zu ihrer Vergangenheit aufzustoßen. Er musste gewusst haben, dass sie es tun würde. Als er Phyllis den Koffer gezeigt und sie gebeten hatte, ihn nach seinem Tod Nell zu übergeben, musste er es geahnt haben.
Während sie am Straßenrand auf das Taxi wartete, schaute sie an ihrem hellgelben Haus hinauf. Aus diesem Winkel betrachtet, wirkte es so hoch, anders als alle anderen Häuser, die sie bisher gesehen hatte, mit seiner merkwürdigen kleinen Treppe, die irgendjemand Jahre zuvor überbaut hatte, den pink, blau und weiß gestreiften Markisen und den beiden Dachgauben. Viel zu schmal, viel zu klein, um als elegant bezeichnet zu werden, aber Nell liebte dieses hässliche Entlein mit seinen zusammengemixten Stilelementen, die keinerlei klare Linie erkennen ließen, dieses Opfer der Zeit und der verschiedenen Besitzer, von denen jeder versucht hatte, der Fassade seinen individuellen Stempel aufzudrücken.
Nell hatte es 1961 gekauft, als sie nach Als Tod mit Lesley aus Amerika zurückgekehrt war. Damals war das Haus ziemlich heruntergekommen gewesen, aber seine Lage am Hang von Paddington, hinter dem alten Kino, hatte ihr gefallen, und sie hatte sich hier sofort zu Hause gefühlt. Und das Haus hatte ihr Vertrauen belohnt und sie sogar mit einer Einnahmequelle ausgestattet. In einem dunklen Kellerraum war sie auf all die alten Möbel gestoßen und hatte einen ausziehbaren Tisch mit gedrechselten Beinen entdeckt, der ihr Interesse geweckt hatte. Der Tisch war in einem ziemlich schlechten Zustand gewesen, aber Nell hatte sich ohne lange nachzudenken Schleifpapier und Schellack besorgt und ihn wieder zum Leben erweckt.
Hamish hatte ihr seinerzeit beigebracht, alte Möbel wieder aufzuarbeiten. Nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war und die kleinen Schwestern nach und nach geboren wurden, hatte Nell angefangen, die Wochenenden mit ihm zu verbringen. Sie
war seine Helferin geworden, hatte gelernt, eine Schwalbenschwanzverbindung von einer einfachen Zapfenverbindung, Schellack von Firnis zu unterscheiden, hatte ihre Freude daran gehabt, Dinge auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Allerdings war das alles schon so lange her,
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