Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
beide Hände genommen. »Aber du bist mein freches Mädchen, und ich würde dich kein bisschen anders haben wollen.«
Ein Geräusch, und die Vergangenheit löste sich auf wie Rauch, verscheucht durch die hellere, lautere Gegenwart. Cassandra blinzelte und fuhr sich über die Augen. Hoch über ihr dröhnte ein Flugzeug, ein weißer Punkt in einem Meer von hellem Blau. Unmöglich, sich vorzustellen, dass Menschen darin saßen, die miteinander
schwatzten und lachten und aßen, und dass einige von ihnen herunterschauten, während Cassandra nach oben schaute.
Noch ein Geräusch, diesmal viel näher. Schlurfende Schritte.
»Hallo, Cassandra.« Eine vertraute Gestalt kam um die Hausecke, blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu holen. Ben war früher einmal ein hochgewachsener Mann gewesen, aber die Zeit verwandelte die Menschen in Gestalten, die sich selbst fremd waren, und Ben sah mittlerweile aus wie ein Gartenzwerg. Sein Haar war weiß, sein Bart drahtig, und seine Ohren leuchteten rot.
Cassandra lächelte, froh, ihn zu sehen. Nell hatte kaum Freunde gehabt und nie einen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die meisten Menschen gemacht und gegen ihren neurotischen Drang, sich Verbündete zu suchen. Aber Ben und Nell waren sich sehr ähnlich gewesen. Auch er war Antiquitätenhändler und hatte einen Stand auf dem Antiquitätenmarkt. Nachdem seine Frau gestorben war, die Kanzlei, in der er als Anwalt arbeitete, ihm den Ruhestand nahegelegt hatte und seine Sammlung an alten Möbeln ihm kaum noch Platz in seinem eigenen Haus übrig ließ, hatte er kurzerhand sein Hobby zum Beruf gemacht.
Während Cassandras Kindheit und Jugend war er für sie eine Art Vaterfigur gewesen, hatte ihr kluge Ratschläge gegeben, die sie sich teils dankbar angehört und teils verschmäht hatte, aber seit sie wieder bei Nell wohnte, war er auch ihr Freund geworden.
Ben zog einen verschossenen Liegestuhl hinter der Waschwanne aus Beton hervor und klappte ihn vorsichtig neben Cassandra auf. Als junger Mann hatte er im Zweiten Weltkrieg eine Knieverletzung davongetragen, die ihm immer noch zu schaffen machte, besonders, wenn das Wetter umschlug.
Er zwinkerte ihr über seine runde Brille hinweg zu. »Du machst es richtig. Das ist ein schönes Fleckchen hier, gemütlich und geschützt.«
»Es war Nells Platz.« Ihre eigene Stimme klang merkwürdig in ihren Ohren, und sie fragte sich, wann sie zuletzt mit jemandem
gesprochen hatte. Das war bei dem Abendessen bei Phyllis vor einer Woche gewesen, fiel ihr ein.
»Klar. Deine Großmutter hat sich immer den besten Platz ausgesucht.«
Cassandra lächelte. »Möchtest du eine Tasse Tee?«
»Gern.«
Sie ging durch die Hintertür in die Küche und setzte den Wasserkessel auf. Das Wasser war noch warm von vorhin, als sie sich einen Tee aufgegossen hatte.
»Wie geht’s dir denn so?«
Sie zuckte die Achseln. »Ganz gut.« Sie ging wieder nach draußen und setzte sich auf die Betonstufe neben seinem Liegestuhl.
Ben lächelte, sodass sein Schnurrbart den Kinnbart berührte. »Hat deine Mutter sich gemeldet?«
»Sie hat eine Karte geschickt.«
»Na dann …«
»Sie schreibt, sie wäre gern gekommen, aber sie und Len hätten viel zu tun. Caleb und Marie -«
»Natürlich. Teenager können einen ganz schön auf Trab halten.«
»Die sind doch keine Teenager mehr. Marie ist gerade einundzwanzig geworden.«
Ben pfiff durch die Zähne. »Wie schnell die Zeit vergeht.«
Der Wasserkessel zischte.
Cassandra ging in die Küche, hängte den Teebeutel in die Tasse, goss Wasser darüber und sah zu, wie es sich braun färbte. Eine Ironie des Schicksals, dass Lesley sich beim zweiten Anlauf zu einer so fürsorglichen Mutter entwickelt hatte. Was einmal mehr bewies, dass es bei vielen Dingen im Leben einfach nur auf den richtigen Zeitpunkt ankam.
Sie gab einen Schuss Milch in den Tee, überlegte kurz, ob sie überhaupt noch gut war, fragte sich, wann sie sie gekauft hatte. Wahrscheinlich vor Nells Tod. Das Haltbarkeitsdatum lautete
14. September. War es bereits überschritten? Sie war sich nicht sicher. Jedenfalls roch die Milch noch nicht sauer. Sie nahm die Tasse mit nach draußen und reichte sie Ben. »Tut mir leid … Die Milch …«
Er trank einen Schluck. »Der beste Tee, den ich heute getrunken habe.«
Er schaute sie an, als sie sich setzte, schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich anders. Dann räusperte er sich. »Cass, ich bin heute nicht nur zu Besuch hier, sondern auch in einer offiziellen
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