Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
hatte, aber Hamish hatte Nell nicht gesagt, auf welchem Schiff sie nach Australien gekommen war, und ohne diese Information ließ sich die Liste der Möglichkeiten nicht eingrenzen.
Nell ließ sich dennoch nicht beirren. Eliza Makepeace hatte irgendeine wichtige Rolle in ihrer Vergangenheit gespielt. Sie konnte sich an Eliza erinnern , wenn auch nur verschwommen. Es waren alte, tief vergrabene Erinnerungen, aber sie waren da. Sie war auf einem Schiff gewesen. Hatte gewartet. Sich versteckt. Gespielt. Nach und nach fielen ihr noch weitere Einzelheiten ein. Es war, als hätte die Erinnerung an die Autorin eine Art Deckel gelüftet. Stück für Stück tauchten immer mehr Erinnerungsfetzen auf: ein Labyrinth, eine alte, Furcht einflößende Frau, eine lange Reise übers Meer. Über Eliza würde sie sich selbst finden, da war Nell sich ganz sicher, und um Eliza zu finden, musste sie nach London.
Gott sei Dank besaß sie genug Geld, um sich den Flug leisten zu können. Eigentlich müsste sie ihrem Vater dafür danken, denn der hatte mehr damit zu tun als Gott. In dem weißen Koffer hatte Nell außer dem Märchenbuch, der Haarbürste und dem Kleidchen einen Brief von Hamish gefunden, der zusammen mit einem Foto und einem Scheck in einem Umschlag steckte. Es war kein Vermögen - Hamish war kein wohlhabender Mann gewesen -, aber doch eine recht stattliche Summe. In seinem Brief hatte Haim geschrieben, er wolle ihr etwas Geld zukommen lassen, ohne dass die anderen Mädchen davon erfuhren. Er hatte alle seine Töchter stets finanziell unterstützt, Nell jedoch hatte sein Geld immer abgelehnt. Wenn er es ihr auf diese Weise gab, so meinte er, konnte sie nicht Nein sagen.
Dann hatte er seine Hoffnung ausgedrückt, dass sie ihm eines
Tages würde vergeben können, auch wenn er sich selbst nie verziehen habe. Vielleicht sei es ihr ein Trost, zu erfahren, dass er sein Leben lang unter Schuldgefühlen gelitten hatte. Er habe sich immer und immer wieder gewünscht, er hätte ihr nie die Wahrheit gesagt. Wenn er ein mutigerer Mann gewesen wäre, hätte er sich gewünscht, sie nie bei sich aufgenommen zu haben, aber das hieße, sich zu wünschen, sie wäre nie Teil seines Lebens gewesen, und da lebe er lieber mit seiner Schuld.
Das Foto hatte sie schon einmal gesehen, wenn auch nur kurz. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto - oder eher braun-weiß -, aufgenommen vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Aufnahme von Hamish, Lil und Nell, bevor sie eine Großfamilie geworden waren und die Schwestern das Haus mit ihrem Lachen und ihrem mädchenhaften Gekreische erfüllt hatten. Es war eine von diesen Atelieraufnahmen, auf denen die Personen aussehen, als hätten sie sich gerade fürchterlich erschrocken, als hätte man sie aus dem richtigen Leben herausgerupft, auf Miniaturformat verkleinert und in ein mit seltsamen Requisiten gefülltes Puppenhaus gesetzt. Als sie es aus dem Koffer nahm, meinte sie sich sogar daran zu erinnern, wie es aufgenommen worden war. Sie hatte nicht viele Erinnerungen an ihre Kindheit, aber sie wusste noch genau, dass sie sich in diesem Atelier spontan unwohl gefühlt hatte und wie sehr ihr der Gestank der Chemikalien zuwider gewesen war. Dann hatte sie das Foto weggelegt und den Brief ihres Vaters noch einmal gelesen.
Egal, wie oft sie ihn las, sie wunderte sich jedes Mal wieder über Hamishs Wortwahl: seine »Schuld«. Wahrscheinlich meinte er damit, dass er Schuld auf sich geladen hatte, als er sie mit seinem Geständnis aus der Bahn geworfen hatte, und dennoch kam ihr das Wort merkwürdig vor. Bedauern vielleicht, oder Reue, aber Schuld? Es kam ihr so unpassend vor. Denn auch wenn Nell sich noch so oft gewünscht hatte, das alles wäre nie geschehen, und obwohl es ihr unmöglich gewesen war, ein Leben weiterzuführen,
das eine Lüge war, hatte sie ihre Eltern nie für schuldig gehalten. Schließlich hatten sie nur getan, was sie für das Beste gehalten hatten und was das Beste gewesen war . Sie hatten ihr ein Zuhause und Liebe gegeben. Dass ihr Vater sich für schuldig hielt und fürchtete, dass sie ebenso dachte, beunruhigte sie zutiefst. Doch jetzt war es zu spät, um ihn danach zu fragen.
9 Maryborough Australien, 1914
Nell war seit vier Monaten bei ihnen, als der Brief im Hafenbüro eintraf. Ein Mann in London suchte nach einem vierjährigen Mädchen. Haarfarbe: rot. Augen: blau. Henry Mansell - der Name stand im Briefkopf - schrieb, er habe Grund zu der Annahme, dass das seit fast sieben Monaten vermisste Kind auf
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